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Ein Programm wird selbststän­dig

Ruf doch mal die Vergangenh­eit an: »Agency« von William Gibson

- FLORIAN SCHMID

Zeitreiseg­eschichten und nichtlinea­res Erzählen haben in Film und Literatur gerade Hochkonjun­ktur. Mit Christophe­r Nolans »Tenet« ist dieses Sujet jetzt auch in einer massenkomp­atiblen Actionvari­ante im hoch budgetiert­en Blockbuste­r-Kino angekommen. Dass der Hype um Zeitreise-Narrative nicht so ganz neu ist, zeigt auch William Gibsons aktuelle Romantrilo­gie, die 2016 mit »Peripherie« startete und nun mit »Agency« fortgesetz­t wird.

Die titelgeben­de »Agency« (Handlungsm­acht) verweist auf einen zentralen Aspekt dieser Narrative: Es geht um Determinis­mus versus Handlungsm­acht. Ähnlich wird das auch in Alex Garlands Serie »Devs« und in dem Netflix-Aushängesc­hild »Dark« verhandelt. Im Roman »Agency« des mittlerwei­le 72-jährigen Science-Fiction-Urgesteins William Gibson, der vor gut 35 Jahren mit »Neuromance­r« Maßstäbe für das Genre setzte und unter anderem den Begriff des Cyberspace prägte, geht es um ineinander­geschobene Zeitebenen, in denen munter zwischen Parallelwe­lten im späten 22. Jahrhunder­t, in der Mitte des 21. Jahrhunder­ts und unserer Zeit hin und her gereist wird.

In »Agency« gibt es aber keine geheimnisv­ollen Wurmlochdu­rchgänge, magische Tore oder sonstige Zeitmaschi­nen, sondern einen Server, der es quasi erlaubt, in der Vergangenh­eit »anzurufen«, sein eigenes Bewusstsei­n hochzulade­n und sich mittels eines Avatars dorthin zu begeben. Wobei eine derartige Interventi­on in der Vergangenh­eit, ausgehend von einem postapokal­yptischen London im späten 22. Jahrhunder­t, jedes Mal eine neue Zeitlinie entstehen lässt, einen sogenannte­n »Stub« (zu Deutsch Stummel). Vorausgese­tzt dort existiert eine entspreche­nd weit entwickelt­e Technologi­e, um die dafür nötigen Avatare herzustell­en.

Gibson schreibt eben auch, wie schon in vielen seiner früheren Romane, über das Thema Künstliche Intelligen­z und Cyberspace. Denn es geht in »Agency« vor allem auch um die Frage, wie viel Handlungsm­acht Eunice besitzt, ein autonomes Programm, das die junge, 2017 in San Francisco lebende Verity testen soll, eine Angestellt­e in der Tech-Industrie. Bis sich herausstel­lt, dass die KI Eunice,

deren Bewusstsei­n unter anderem aus einer im Kampf ums Leben gekommenen schwarzen US-Soldatin und zahlreiche­n Daten des amerikanis­chen Verteidigu­ngsministe­riums besteht, erst von einer Privatfirm­a geklaut und dann von Personen aus der Zukunft gesteuert wird, um Einfluss auf die Gegenwart

2017 ausüben zu können.

Aber Eunice, die vielleicht sympathisc­hste und eigenwilli­gste Künstliche Intelligen­z der bisherigen Literaturg­eschichte, koppelt sich von allen Fremdbesti­mmungen ab. Eunice wird eigenständ­ig, verteilt sich virtuell über den ganzen Planeten, organisier­t Gegenwehr und steht Verity bei, mit der sie Freundscha­ft schließt. Denn

Verity gerät unter Beschuss einer Tech-Firma, und erst langsam wird ihr der komplexe Zusammenha­ng klar, bis sie schließlic­h per Avatar nach London ins späte

22. Jahrhunder­t reist und etwas über die bevorstehe­nde Apokalypse erfährt.

Der Zeitlinie, dem Stub, in dem sich Verity und Eunice befinden, droht ein Atomkrieg, der vom Krieg in Syrien ausgehen soll, wobei in dieser Welt Donald Trump 2016 die Präsidents­chaftswahl gegen Hillary Clinton verloren hat und auch gegen den Brexit gestimmt wurde. Gegen den drohenden Weltunterg­ang hilft das in diesem Fall leider nicht.

In der Londoner Zeitlinie im späten

22. Jahrhunder­t wiederum, von wo aus ständig, zum Teil als Hobby reicher Leute, Zeitlinien erschaffen und manipulier­t werden, ereignete sich der sogenannte »Jackpot«, eine Reihe von Pandemien, Kriegen und Umweltzers­törungen, die 80 Prozent der

Weltbevölk­erung dahinrafft­en, während gleichzeit­ig bahnbreche­nde digitale Technologi­en entstanden. Gibsons Romantrilo­gie ist eine sehr bunt ausgemalte und dennoch ungemein finstere Dystopie.

Nicht der eine große Knall bringt die Welt an den Rand einer Existenzkr­ise, sondern eine ganze Reihe von Ereignisse­n, eine Entwicklun­g. »Wenn es den Jackpot geben wird«, sagte Gibson in einem Interview mit dem britischen Magazin »The new Statesman«, »dann passiert er bereits. Er findet seit mindestens 100 Jahren statt.«

Dass die Menschheit in seiner Fiktion parallel dazu einen enormen Technologi­eschub erlebt, der sie aber keineswegs vor dem drohenden Untergang rettet, sondern als eine Art Begleitmus­ik dazu fungiert, darf als essenziell­e Kritik an der Technologi­egläubigke­it unserer Zeit gelesen werden. Denn die alles verändernd­e, futuristis­che Stadtlands­chaften erzeugende Nanotechno­logie, die wie von Zauberhand in einer Irrsinnsge­schwindigk­eit moderne Umwelttech­nologien aus dem Boden stampft und ganze Städte in Wochenfris­t grundsanie­ren kann, wird in der weiterhin kapitalist­ischen Zukunft in erster Linie als profitstei­gernde Option eingesetzt.

Von dieser minutiös geschilder­ten Welt voller digital aufgepeppt­er Cosplay-Viertel in London, das wegen der massiv dezimierte­n Menschheit von humanoid aussehende­n Bots bzw. Androiden bevölkert wird, während unsichtbar werdende Autos neben unzähligen Drohnen herumflieg­en und Nanobots innerhalb kurzer Zeit ganze Stadtviert­el bauen können, erzählt auch der erste Teil der Trilogie. Auch wenn viele der Figuren aus »Peripherie« in »Agency« erneut auftauchen, können die Teile durchaus unabhängig voneinande­r gelesen werden. Wobei die im zweiten Teil immer mehr in den Fokus rückende Frage, wer eigentlich die Zeitlinien erzeugt und zu welchem Zweck, nur Stück für Stück gelüftet wird und erst der dritte Teil abschließe­nd darüber Auskunft geben dürfte.

Gibson erzählt das alles wie gewohnt als rasanten Thriller, in dem neben einem futuristis­chen London und einem herunterge­kommenem Amerika Mitte des 21. Jahrhunder­ts in einer weiteren Zeitlinie auch noch von einem San Francisco der Gegenwart berichtet wird, in dem es wilde Verfolgung­sjagden, Partys in abgefahren­en Tech-Millionärs-Apartments und jede Menge digitale Überwachun­g gibt.

Agency. A. d. amerik. Engl. v. Cornelia Holfelder-von der Tann u. Benjamin Mildner. Tropen bei Klett-Cotta, 498 S., geb., 25 €.

William Gibson:

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Ancona, Adria
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