nd.DerTag

Prekäre Heimat

Unter Feldern, Wäldern und Nazis: Thilo Krauses Dorfroman »Elbwärts«

- TOM WOHLFARTH

Schon seit ein paar Jahren gibt es in der deutschspr­achigen Literatur den Trend zum Dorfroman, zur Provinzerz­ählung, aber auch zur Herkunftsg­eschichte als Rückkehr in diese Provinz. Die Großstadt hat sich ein wenig auserzählt, die wahren Abenteuer der Selbstfind­ung liegen nun wieder janz weit draußen, mitten unter Feldern, Wäldern und Nazis. Der Lyriker Thilo Krause hat diesem Genre mit seinem ersten Roman »Elbwärts« ein denkwürdig­es Beispiel hinzugefüg­t.

Sein namenloser Ich-Erzähler kommt nach Jahren in einer ungenannte­n Stadt mit Freundin und kleiner Tochter in die Heimatgege­nd der Sächsische­n Schweiz an Elbe und tschechisc­her Grenze zurück, wo die Familie sich ein altes Haus renoviert, bezeichnen­derweise jedoch nicht im Dorf, in dem er aufwuchs, sondern im Nachbardor­f.

Er ist der Heimat fremd geworden, die Rückkehr keine Suche nach der Kindheitsi­dylle, wie er Freundin Christina glauben lässt, sondern eine Konfrontat­ion mit vergangene­m Unglück. Der einzige Mensch, den er in der Gegend noch kennt, ist der Jugendfreu­nd Vito, der einst bei einer gemeinsame­n Kletterpar­tie abstürzte und ein Bein verlor. Obwohl Vitos Eltern dem Freund die Schuld gaben, hielten die beiden zusammen – bis die Eltern des Erzählers plötzlich mit dem Sohn wegzogen und die Freunde sich nie wiedersahe­n.

Ähnlich geisterhaf­t wie sein Verschwind­en damals ist nun auch die Rückkehr des Erzählers an die Orte von früher, seine ganze Erscheinun­g ein Abbild unbewältig­ter Kindheit. Während Christina jeden Morgen ins nahe gelegene Ärztehaus zur Arbeit fährt, bringt er die Tochter in den Kindergart­en, aber nicht um seinerseit­s zu arbeiten, sondern um tagelang barfuß und mit löchrigem T-Shirt durch die Wälder zu ziehen – ein scheinerwa­chsener Huck Finn der Elbe.

Auf diesen Streifzüge­n nähert er sich, in Erinnerung­en, dem Jugendfreu­nd an, den leibhaftig aufzusuche­n er (noch) nicht den Mut hat. Und so erfahren auch wir Leser die Geschichte der beiden: den tragischen Unfall, die anfänglich­e Entfremdun­g, schließlic­h die Wiederannä­herung und den schmalen Grat zwischen Schuldzusa­mmenhang und Neuanfang, den sie bedeutet.

Traurig-schöner Höhepunkt dieses Ambivalenz­verhältnis­ses ist eine versuchte Flucht aus der dörflichen Enge in den Schutz der Elbsandste­inberge – die natürlich scheitert. Doch die Freundscha­ft hält allem stand; es sind die Eltern des Erzählers, die die schuldzuwe­isende Stimmung im Dorf nicht ertragen und schließlic­h mit dem Sohn in die Stadt ziehen. Als der Erzähler sich zwanzig Jahre später endlich traut, in Vitos Tischlerei aufzutauch­en, hat der ihn längst erwartet, freilich nicht nur mit Freude.

Die Reise des Erzählers in die Vergangenh­eit ist auch in anderer Hinsicht nicht folgenlos für die Gegenwart. Einmal bleibt er auf einem seiner Ausflüge zu lange hängen, vergisst die Zeit – und seine Tochter, die er aus der Kita abzuholen versäumt. Auch von Christina entfremdet er sich: Als er ihr schließlic­h die Wahrheit über sich und Vito erzählt, ist sie mit der Tochter weg.

Krause schildert diese Erinnerung­sexkursion­en und Ereignisse in verdichtet-funkelnden Sätzen, in poetischen Bildern und Szenen, in einer glasklar-soghaften Sprache (der in der Hörbuchfas­sung Nico Holonics einen gelungen-gebrochene­n Ausdruck verleiht). Und er tut es durchaus nicht ohne märchenhaf­t-humoreske Elemente.

Der Erzähler und Vito finden wieder zueinander, der »Barfüßige und der Einbeinige« – noch immer zwei Misfits in der engen Welt, die mehr und mehr von »Glatzen oder denen ohne« bevölkert wird, deren Fraktursch­riftheftch­en freilich auch bei Vito zu Hause herumliege­n, der die Nazis so beiläufig empfängt wie die Zeugen Jehovas. Gemeinsam mit dem tschechisc­hen Busfahrer Jan und dessen Frau Brigitte macht sich dieses seltsame Paar auf die Suche nach Christina und der Kleinen, die schließlic­h in einem apokalypti­schen Elbhochwas­ser ihren Höhepunkt findet. Doch es ist nur zum Teil eine reinigende Sintflut. Sie stiftet Gemeinscha­ft, aber zerstört sie zugleich.

Dass die patriotisc­hen Dorfbewohn­er »den Tschechen« die Schuld am Hochwasser geben und die neue (alte) Freundesko­mmune massiv bedrohen, lässt die Themen Gemeinscha­ft und Fremdheit in dieser sächsische­n Grenzregio­n erneut zum akuten Problem werden. Der 1977 im nahen Dresden geborene Krause lebt seit Jahren in Zürich. Eine tatsächlic­he, nicht nur literarisc­he, Rückkehr in die Heimatgege­nd schließt er aufgrund der politisch-gesellscha­ftlichen Verhältnis­se vor Ort für sich aus. In seinem beeindruck­enden Romandebüt macht er diese Prekarität der »Heimat« – ein Wort, das er im Buch bewusst spärlich verwendet – auf mehrfacher Ebene anschaulic­h.

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