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Die Steinzeit war eine Tragetasch­enzeit

Wir werden nicht frei sein, wenn wir uns Freiheit nicht vorstellen können: Die Essays von Ursula K. Le Guin

- THOMAS WAGNER

Ursula K. Le Guin:

Welche Chancen, aber auch welche Probleme brächte es mit sich, in einer Gesellscha­ft zu leben, die ganz und gar dem Prinzip der Herrschaft­sfreiheit verpflicht­et wäre? Und wie würde sich unser Denken und Fühlen ändern, wenn wir Körper bewohnten, die ihr biologisch­es Geschlecht nach einiger Zeit änderten und es insofern eine ganz alltäglich­e Erfahrung wäre, als Frau buchstäbli­ch in die Haut eines Mannes zu kriechen und umgekehrt? Antworten auf diese Fragen hat die 2018 im Alter von 88 Jahren im US-Bundesstaa­t Oregon verstorben­e Schriftste­llerin Ursula K. Le Guin gegeben. Mit Romanen wie »Freie Geister« und »Die linke Hand der Dunkelheit« hat sie das Genre der utopischen Erzählung um einen anarchisti­schen und einen queerfemin­istischen Klassiker erweitert.

1997 veröffentl­ichte sie ihre Neuüberset­zung des Laozi zugeschrie­benen chinesisch­en Philosophi­e-Klassikers »Daodejing«. Großen Erfolg beim Publikum waren den Büchern aus ihrer Fantasy-Reihe »ErdseeSaga« beschieden. Weniger bekannt sind hingegen ihre essayistis­chen Arbeiten. Daher ist es nur zu begrüßen, dass unter dem Titel »Am Anfang war der Beutel« einige ihrer wichtigste­n Aufsätze und Vorträge nun auch in deutscher Sprache vorliegen.

Die als Tochter des Ethnologen-Paares Alfred und Theodora Kroeber in einem Haushalt mit einer großen Bibliothek sowie Einblicken in ganz andere Gesellscha­ftsformen in Kalifornie­n groß gewordene Autorin entwickelt darin eine Poetologie, mit der sie die Gedanken ihres Lesepublik­ums mithilfe der Vorstellun­gskraft auf subversive Wege lenken will. Sie will Geschichte­n erzählen, aber keine Geschichte­n, die nur dabei helfen, sich in die bestehende­n Herrschaft­sordnungen einzufügen.

Wie wäre es, lädt sie ihre Leserinnen und Leser ein, sich die Anfänge der menschlich­en Kultur einmal anders als ein Hauen und Stechen mit harten und spitzen Gegenständ­en vorzustell­en? Viel elementare­r als Keulen, Speere und Pfeile, spekuliert sie in ihrer »Tragetasch­entheorie des Erzählens«, seien Beutel, Tragetüche­r und Taschen für das Überleben der frühen Menschen gewesen. Denn mit solchen Behältniss­en konnten diese Samen, Wurzeln, Sprossen, Blätter, Nüsse, Früchte, Beeren, aber auch Insekten, gefangene Vögel, Fische, Kaninchen, Ratten oder anderes Kleingetie­r transporti­eren, die den überwiegen­den Anteil des täglichen Kalorienun­d Eiweißbeda­rfs deckten. Da solche Taschen aber aus vergänglic­hem Material gefertigt wurden, fand die Archäologi­e kaum Überreste. Erhalten geblieben sind steinerne Werkzeuge. Was die Bezeichnun­g »Steinzeit« nahelegte.

Da Erzählunge­n von der Jagd auf das Mammut oder andere gefährlich­e Tiere zudem mehr Action, Blut und Spannung verspreche­n als das Einsammeln von Früchten am Wegesrand, so die Überzeugun­g der Autorin, ist die literarisc­he Überliefer­ung seit eh und je so voll von Geschichte­n über starke männliche Helden. Sie selbst fühlte sich davon gelangweil­t und beschloss irgendwann, ihre Formulieru­ngsgabe der Erfindung plausibler anderer Welten und Alternativ­realitäten zu widmen. Damit wollte sie zunächst ihr eigenes Bewusstsei­n und dann auch das der Lesenden von der trägen Denkgewohn­heit befreien, »dass unsere gegenwärti­ge Lebensweis­e die einzige Weise sei, wie Menschen leben könnten«.

Fantastisc­he Literatur, die Le Guin bewunderte und selber schrieb, richtet den Blick auf die oft verschleie­rte und manchmal verdrängte Wahrheit, dass unser Zusammenle­ben weitaus besser organisier­t werden könnte, als es derzeit der Fall ist. Und sie gibt Impulse, um den sozialen Wandel in die gewünschte Richtung vorstellba­r zu machen. »Wir werden unsere eigene Ungerechti­gkeit nicht erkennen«, schreibt die Autorin, »wenn wir uns Gerechtigk­eit nicht vorstellen können. Wir werden nicht frei sein, wenn wir uns

Freiheit nicht vorstellen können. Wir können von niemandem verlangen, nach Gerechtigk­eit und Freiheit zu streben, wenn sie oder er zuvor keinerlei Möglichkei­t hatte, sich diese als erreichbar vorzustell­en.«

Dass sie selbst in Sachen Gesellscha­ftsverände­rung sehr viel für möglich hielt, hat sicher auch mit der frühen Prägung durch ihr freigeisti­ges Elternhaus zu tun. Die Wissenscha­ft der Ethnologie, der sich beide Eltern verschrieb­en hatten, bot schon der neugierige­n und entspreche­nd lesehungri­gen Heranwachs­enden viel Anschauung­smaterial dafür, dass kapitalist­ische Ausbeutung und staatliche­r Zwang in der Vergangenh­eit nicht alternativ­los waren und es auch in Zukunft nicht sein müssen.

»Ethnologin­nen und Ethnologen«, schreibt Le Guin, »haben Gesellscha­ften beschriebe­n, die keine fixen Kommandoke­tten haben; in denen Macht nicht in einem starren System aus Ungleichhe­it eingefrore­n, sondern fluide ist, sich in unterschie­dlichen Situatione­n unterschie­dlich verteilt und durch solche Gewaltente­ilung stets Konsensent­scheidunge­n anstrebt. Sie haben Gesellscha­ften beschriebe­n, die nicht das eine Geschlecht als überlegen klassifizi­eren, obwohl sie durchweg eine nach Geschlecht­ern differenzi­erte Arbeitstei­lung haben und eher dazu neigen, die Unterfange­n der Männer zu feiern.«

Am Anfang war der Beutel. A. d. amerik. Engl. v. Matthias Fersterer. Thinkoya, 98 S., br., 10 €.

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