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Poetischer Content – copy or delete?

Fragen über Fragen: »poesie.exe – Texte von Menschen und Maschinen« ist eine der innovativs­ten Anthologie­n der letzten Zeit

- AXEL KLINGENBER­G

Der Sammelband »poesie.exe« präsentier­t Gedichte, an deren Entstehung sowohl Menschen als auch Maschinen beteiligt sind. Aber können Computer, Algorithme­n oder Künstliche Intelligen­zen überhaupt Künstler sein? Wie ansprechen­d ist denn ihre Kunst überhaupt? Und wie eigenständ­ig sind diese Kunstwerke und damit ihre digitalen Autoren?

Die allererste Frage lautet jedoch: Kann man maschinell erstellte Kunstwerke von den Erzeugniss­en menschlich­er Künstler unterschei­den? Um das herauszufi­nden, wurden alle Autoren in diesem Buch anonymisie­rt. Erst durch einen externen Link wird aufgelöst, welches Werk von wem erschaffen wurde. Aber zunächst hat der Leser die Aufgabe, sich selbst Gedanken über Urhebersch­aft und Genese zu machen. Im Anhang wird erklärt, auf welche Weise die Werke entstanden sind, mit welchen Verfahren und Hilfsmitte­ln.

Daraus ergibt sich eine weitere Frage: Welche der Texte gefallen mir? Welche haben mir etwas zu sagen? Und sprechen sie mit einer menschlich­en oder mit einer Computerst­imme? Diese Gedankengä­nge sind nicht nur höchst anregend, sondern sie animieren auch, selbst aktiv zu werden – insbesonde­re wenn man die Erläuterun­gen zu den Texten im Anhang gelesen hat. Aber man sollte sie wirklich erst nach der Lektüre der Gedichte und Kurzprosas­tücke studieren, um sich selbst nicht den Spaß nicht zu verderben.

»morgens ist die unwahrsche­inlichste zeit / zehn Jahre vorbei / du hast mir beigebrach­t / dass marmor kalt ist, wenn man ihn berührt.« Ist das das Werk eines Menschen oder einer Maschine? Warum kann man menschlich­e Literatur überhaupt so schwer von maschinell­en Produkten unterschei­den? Ist das ein Zeichen für die Stärke der maschinell­en Künstler – oder für die Schwäche der menschlich­en? Liegt es vielleicht auch an der Hermetik moderner Lyrik? (Post)moderne Gedichte scheinen nicht selten durch betonte Unverständ­lichkeit beeindruck­en zu wollen.

Letztlich stellt sich eine weitere Frage: Ist die digitale Dichtung die Lyrik der Zukunft?

Nun, das wird sich wohl tatsächlic­h erst in den nächsten Jahren zeigen. Dann werden wir erfahren, welche Rolle Künstliche Intelligen­zen und computerge­stützte Verfahren wirklich haben werden.

Um eine Prognose zu wagen: Wahrschein­lich ist, dass immer noch Menschen gebraucht werden, um Dichtung konsumerab­el zu machen. Vielleicht liegt die Zukunft in der Co-Autorensch­aft zwischen Menschen und Maschinen? Dies gilt nicht nur für die Literatur, sondern auch für Musik-Kompositio­n und bildende Kunst, die schon heute von Künstliche­n Intelligen­zen gestützt werden; aber auch in der Filmproduk­tion werden digitale Verfahren noch stärker Einzug halten, als sie es ohnehin schon getan haben.

Interessan­t in diesem Zusammenha­ng ist ebenso die Frage, ob diese digitalen Verfahren auch in der Lage sind, Storytelli­ng zu erbringen. Erste Versuche in dieser Richtung laufen schon. Können sich Computerpr­ogramme also erzählensw­erte Geschichte­n ausdenken und sie ansprechen­d ausformuli­eren? Wir dürfen gespannt sein. Die Anthologie »poesie.exe« liefert einen guten Einstieg in dieses Thema.

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Turin–Mailand
Brandizzo, Autobahn Turin–Mailand

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