nd.DerTag

Leidende, Verstummte, Nazis und Angepasste

Autoren unterm Hakenkreuz: »Jeder schreibt für sich allein« von Anatol Regnier ist nicht das erste Buch zum Thema, aber ein besonderes

- KLAUS BELLIN

Er litt, er schlief schlecht, er sah erschrocke­n, wie die Akademie der Künste brutal auf den Kurs der Nationalso­zialisten gebracht wurde. »Alles bricht zusammen«, schrieb Oskar Loerke am 14. Februar 1933 ins Tagebuch. Und: »Viel Entsetzlic­hes hat sich ereignet.« Er hatte sieben Gedichtbän­de veröffentl­icht, arbeitete seit 1917 als Lektor im S.-FischerVer­lag, war 1926 Mitglied der Preußische­n Akademie der Künste geworden und zwei Jahre später (bis zur Absetzung durch die Nazis) auch deren Sekretär. Er kämpfte nun mit »halluzinat­orischen Zukunftsvi­sionen«, beklagte die »Unordnung über der Ordnung«, hielt sich nur noch mühsam und mit »Stimulanti­a« aufrecht und dokumentie­rte im Tagebuch seine »steigende Verbitteru­ng über die Sklaverei und Barbarei«.

Oskar Loerke, unglücklic­h, überforder­t, blieb in Deutschlan­d. Er rang Tag für Tag mit dem Ekel und starb Ende Februar 1941. Die Totenrede hielt Peter Suhrkamp. Im Verlag legten sie noch Wochen danach Blumen auf seinen Schreibtis­ch. Auch Hans Fallada, der einst gefeierte Erzähler, blieb. Anatol Regnier stieß 2011 in London zufällig auf seinen Roman »Jeder stirbt für sich allein«, ein Buch, das gerade ein Welterfolg geworden war, las vom Ehepaar Quangel, das Postkarten gegen Hitler verteilt, und einem Alltag, der überrasche­nd normal schien. Noch nie, sagt er, ist ihm die nationalso­zialistisc­he Wirklichke­it so unmittelba­r vor Augen geführt worden. Jetzt wollte er mehr wissen. Über Fallada und auch die anderen, die damals im Deutschlan­d der Nazis lebten, schrieben, publiziert­en, schwiegen. Er konsultier­te Archive, fuhr nach Marbach, saß wochenlang im Lesesaal des Literatura­rchivs, sichtete Nachlässe und Verlagskor­respondenz­en. Ergebnis seiner Recherchen ist ein Buch, das sich, in Anlehnung an den FalladaRom­an, »Jeder schreibt für sich allein« nennt. Es erzählt von Schriftste­llern im Nationalso­zialismus.

Es ist nicht das erste Buch zu diesem Thema. Aber es ist ein besonderes. Anatol Regnier, Sohn des Schauspiel­er-Ehepaares Pamela Wedekind und Charles Regnier, ist aufgewachs­en in München und hat als Erwachsene­r in Israel gelebt; er ist Musiker und Schriftste­ller, Autor mehrerer Bücher, darunter eines über seinen Großvater Frank Wedekind (dessen Lieder er bei seinen Lesungen gern zur Gitarre singt), ein Mann mit eigener Handschrif­t, der Historie in suggestive Geschichte­n verwandeln kann. Seine Qualitäten werden schon sichtbar, wenn er die Vorgänge in der Sektion Dichtkunst der Preußische­n Akademie der Künste beschreibt, die Umstände, unter denen Heinrich Mann gezwungen wurde, die Akademie zu verlassen, Döblins Protest, den Widerstand Leonhard Franks, Benns Feier des »neuen Staates«, Ricarda Huchs couragiert­es Beharren auf der eigenen Meinung mit ihrem spektakulä­ren Akademie-Austritt als Konsequenz. Zur selben Zeit schrieb Ina Seidel der Mutter aus Oberbayern: »Ach Mamachen, welch eine Zeit ist dies!« Jemand, der »den Führer« kennt, hatte sie besucht und »eigentlich beruhigend­e und sympathisc­he Eindrücke« hinterlass­en.

Regnier interessie­ren nicht die Dwinger oder Beumelburg, die in ihren Büchern den Krieg befeuerten. Er schreibt über die anderen, Leidende wie Fallada oder Loerke, die Verstummte­n, die Nazis und die Angepasste­n, die glaubten, auf der richtigen Seite zu stehen. Da ist Benn, der seine Irrtümer bald erkannte, oder ein Mann wie Kasimir Edschmid, von dem einige Bücher am 10. Mai 1933 auf dem Scheiterha­ufen gelandet waren und der dem Kultusmini­ster Rust in einem Brief daraufhin aufzählte, was er an »Deutschtum« zu bieten habe. Regnier erzählt von Hanns Johst, den Thomas Mann einmal lobte und der Hitler sein Stück »Schlageter« zum Geburtstag schenkte. Es wurde Hitlers »liebstes Drama«.

Der jüdische Romancier Jakob Wassermann lieferte dem S.-Fischer-Verlag einen Bestseller nach dem anderen; jetzt, 1933, war er zur Belastung geworden. Man setzte ihn vor die Tür, und er starb, schwer getroffen, mit 60 Jahren am Neujahrsmo­rgen 1934. Sieben Stunden lang durchsucht­en im Mai 1938 Gestapo-Beamte das Haus von Ernst Wiechert. Danach wurde er ins KZ Buchenwald gebracht. Ludwig Fulda, der alte, einsame, verzweifel­te Jude, der die Preußische Akademie der Künste mitbegründ­ete, nahm im März 1939 Abschied von seiner Frau und bat im letzten Brief, Wiederbele­bungsversu­che zu unterlasse­n. Ina Seidel feierte im »Neuen Wiener Tageblatt« Hitlers 50. Geburtstag und schrieb im Mai 1945 in eines ihrer schwarzen Wachstuchh­efte: »Die unerhörte Schwierigk­eit der Stellung zum N. S. für Menschen meiner Art lag darin, dass wir der Überzeugun­g waren, ihn um Deutschlan­ds willen bejahen zu müssen.«

Aus öffentlich­en Bekundunge­n und privaten Mitteilung­en entsteht hier eine bestechend­e, facettenre­iche, furios entworfene Ansicht jener Zeit und der unterschie­dlichsten Dichtersch­icksale, wobei Regnier keine Vollständi­gkeit anstrebt und auch die ins Exil getriebene­n Autoren, etwa Klaus Mann mit seinem Roman »Mephisto«, nicht aus dem Blick verliert. Er ist als Fragender und Suchender immer anwesend, und deshalb ist es auch ein sehr persönlich­es, fesselndes Buch geworden. Zuletzt steht er am Grab des Nazi-Dichters Will Vesper und lernt danach, tief beeindruck­t, dessen 80-jährige Tochter Heinrike kennen. Die Gespräche führen zu ihrem Bruder Bernward, der eine Weile mit Gudrun Ensslin liiert war, und zu den Terroriste­n der RAF; und nun liest Regnier auch »Die Reise«, das postum erschienen­e dicke Erinnerung­sbuch Bernwards, der nach dem Willen der Mutter ein zweiter Will Vesper werden sollte und wie kein anderer den Generation­enkonflikt von Nazi-Kindern und die eigene politische Radikalisi­erung beschriebe­n hat.

Jeder schreibt für sich allein. Schriftste­ller im Nationalso­zialismus. C. H. Beck, 366 S., geb., 26 €.

Anatol Regnier:

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Westberlin, Stadtautob­ahn
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