nd.DerTag

Das Bedürfnis nach dem »Wir«

Ein etwas unverbindl­iches Lesebuch über Christian Geissler: »Ein Boot in der Wüste«

- CHRISTOPHE­R WIMMER

Ein fiktives Gespräch zwischen dem Ratsvorsit­zenden der Evangelisc­hen Kirche in Deutschlan­d Heinrich Bedford-Strohm und dem marxistisc­hen Philosophe­n Slavoj Žižek zur Situation von geflüchtet­en Menschen im Mittelmeer. Bedford-Strohm ist entsetzt über den Hass, welcher der zivilen Seenotrett­ung entgegensc­hlägt. Er predigt: »mitten im sterben // der hass auf die rettung des menschen«. Und Slavoj Žižek, der als Marxist die gesellscha­ftlichen Bedingunge­n kennt, antwortet: »und du // du hörst hier jetzt endlich mal ganz fix auf // mit deiner humanität!« und ruft zum Klassenkam­pf auf. So oder so ähnlich würde wohl eine Diskussion zwischen den beiden Männern aussehen. Die Versform und die – in linksradik­aler Tradition stehende – Kleinschre­ibung verrät allerdings bereits, dass es sich um jemand anderen handeln muss, von dem diese Worte stammen. Gesprochen hat sie Christian Geissler am 6. Mai 2005 in einem Dortmunder Buchladen. Es war der letzte öffentlich­e Auftritt des Schriftste­llers und Dokumentar­filmers, bevor er drei Jahre später an einem Krebsleide­n starb.

Für Geissler passt die Verbindung aus Christentu­m und Kommunismu­s. 1928 geboren und mit 15 Jahren in den Zweiten Weltkrieg eingezogen, studierte er nach dem Krieg Theologie und stieß Ende der 50er Jahre zur links-katholisch­en Bewegung um die »Werkhefte katholisch­er Laien«. Als im Umfeld der verbotenen KPD 1965 die Kulturzeit­schrift »Kürbiskern« gegründet wurde, war er Mitherausg­eber und Redakteur. In den 70er und 80er Jahren sympathisi­erte Geissler offen mit der Rote Armee Fraktion und näherte sich mehr und mehr antiimperi­alistische­n Kämpfen an. Bis wenige Jahre vor seinem Tod verteidigt­e er öffentlich den bewaffnete­n Kampf als Form linker Politik.

Diese politische Entwicklun­g spiegelt sich auch im literarisc­hen Schaffen Geisslers. Bereits sein Debütroman »Anfrage« von 1960 mischte die westdeutsc­he Literatur gehörig auf. Geissler beschäftig­te sich mit der deutschen Schuld an der Shoah und schrieb vom Nachkriegs­deutschlan­d als einer Gesellscha­ft, in der die alten Nazis unbehellig­t weiterlebe­n können und die Opfer sich wieder verstecken müssen. Der Roman machte ihn auf einen Schlag bekannt, der NDR adaptierte ihn für das Fernsehspi­el.

Geisslers letzter großer literarisc­her Erfolg war »kamalatta« – das »romantisch­e Fragment« erschien 1988. Darin zeichnet Geissler ein weites, multipersp­ektivische­s Bild des linken Widerstand­s in der Bundesrepu­blik der 70er und 80er Jahre. Das Buch berichtet von den zahllosen Fraktionen der revolution­ären Linken. Es tauchen keine einzelnen Helden oder Protagonis­ten auf, sondern zahlreiche Organisati­onen und Akteure,

die nebeneinan­derstehen und damit auch Geisslers Bedürfnis nach einem politische­n »Wir« im Gegensatz zum vereinzelt­en »Ich« ausdrücken.

Seit 2013 bringt der Berliner Verbrecher­Verlag eine Werkausgab­e Geisslers heraus. Das dort nun erschienen­e Lesebuch »Ein Boot in der Wüste« versammelt Romanauszü­ge sowie fragmentar­ische, teilweise unveröffen­tlichte Textsplitt­er.

Neben »Anfrage« und »kamalatta« finden sich Ausschnitt­e aus den Romanen »Das Brot mit der Feile« (1973) und »Wird Zeit, dass wir leben« (1976), die mit »kamalatta« eine Trilogie bilden, teilweise mit denselben Romanfigur­en. »Das Brot mit der Feile« handelt von jungen Arbeiter*innen in der BRD der 60er Jahre, die sich den Kommuniste­n anschließe­n, »Wird Zeit, dass wir leben« thematisie­rt politische Konflikte unter Linken vor und nach dem Sieg der Nazis 1933.

Daneben findet sich noch die eingangs erwähnte Rede Geisslers zum Tag der Befreiung 2005, in der er sich auch mit der Rede von Bundespräs­ident Richard von Weizsäcker zum 8. Mai 1985 beschäftig­t. Weil dieser damals als konservati­ver Politiker erstmals vom »Tag der Befreiung« gesprochen hatte, empfanden viele dessen Rede als »neuen Wind« – nicht aber Geissler, der resümiert: »es ist bei windungen geblieben«.

Der von der Schriftste­llerin Sabine Peters, die seit 1989 mit Geissler verheirate­t war, und dem Vorsitzend­en der Christian-Geissler-Gesellscha­ft Detlef Grumbach herausgege­bene Band will »Geisslers Werk vorstellen und Appetit auf das Ganze machen«, so heißt es beim Verbrecher-Verlag. Dies gelingt nur in Teilen. Die erstmals veröffentl­ichten Fragmente bleiben seltsam unverbunde­n mit den Romanaussc­hnitten, und insbesonde­re bei »kamalatta« wird deutlich, wie wenig die 24 ausgewählt­en Seiten dem Kaleidosko­p und der Montage des über 600-seitigen Textes gerecht werden können. Dies ist jedoch kein Argument gegen Geissler, sondern eine dezidierte Empfehlung, sich mit dessen Werk vertraut zu machen.

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