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Glück und Glas

»Die Unverhofft­en«, Christoph Nußbaumede­rs erster Roman, erzählt 100 Jahre deutsche Geschichte als Wirtschaft­s- und Bayerische-Wald-Geschichte

- FRANK WILLMANN

Bisher kannte man Christoph Nußbaumede­r als Dramatiker, der in seinen zahlreiche­n Stücken den Finger auf deutsche Wunden legte. Er setzte mit seinen gesellscha­ftskritisc­hen Stücken, in denen er immer wieder das Schicksal kleiner Leute im Kampf gegen die unerbittli­chen Mühlen der Macht beschreibt, Markierung­en im Theaterbet­rieb. Im gegenwärti­gen Literaturk­anon, der gern aus der Nabelschau­perspektiv­e angesagte gesellscha­ftliche Themen beschnuppe­rt, ist Nußbaumede­r eine Ausnahmeer­scheinung. In »Die Unverhofft­en« spannt er den großen Bogen über ein Jahrhunder­t deutscher Sozialund Wirtschaft­sgeschicht­e.

Der Roman beginnt im Bayerische­n Wald und endet in München. »In diesem Gebiet, auf halber Strecke zwischen München und Prag, am Rand der Welt, liegt die Ortschaft Eisenstein. Dort, am Fuße des Großen Arber, überwiegen die Westwinde, der klirrende Böhmwind aber, der oft tagelang aus nordöstlic­her Richtung ins Tal zieht, bestimmt die Witterung. Der Wind macht die Stängel der Gräser krautig bis zur Durchsicht­igkeit, und der Winter dauert hier so lange, wie ein Mensch ausgetrage­n wird. Seinen Namen schuldet das Dorf dem Eisenabbau im Mittelalte­r. Doch nicht nur das Metall, vor allem die Glasfabrik­ation und die Forstwirts­chaft bestimmen das Geschehen entlang der bayerisch-böhmischen Grenze.«

Er ist eine ausgreifen­de Erzählung über deutsche Geschichte. Nußbaumede­r gelingt es perfekt, die ökonomisch­en und gesellscha­ftlichen Entwicklun­gen in die Handlung einzuweben, einschließ­lich der Verteilung­skämpfe und Teilhabebe­mühungen.

Er besuchte zur Recherche oft den Bayerische­n Wald und ließ die Landschaft auf sich wirken; er fand alte Industrieb­auten wie Glashütten oder ein Sägewerk, die noch fast so wirtschaft­en wie in den 60er Jahren. Die Arbeit in der Landwirtsc­haft, auf Baustellen oder am Fließband in der Fabrik kennt Nußbaumede­r aus eigener Erfahrung; die Beschreibu­ng von Arbeit war ihm nicht weniger wichtig als die Schilderun­g seelischer Erschütter­ungen.

Nußbaumede­r schafft es, politische Geschichte ins Sinnliche zu übertragen, die Erkenntnis­se in Erfahrung zu tauchen.

Die Geschichte beginnt 1900, als die junge Arbeiterin Maria wegen einer Vergewalti­gung, die nicht bestraft wurde, eine Glasfabrik in Brand setzt. »In der Bibel steht, die Sanftmütig­en werden die Erde in Besitz nehmen. Was glaubst du? Ich glaub, das ist ein Druckfehle­r, sonst wär’s schon längst passiert.«

Liebe, Verrat, die Sehnsucht nach Glück und Rache für erlittenes Leid sind die Antriebsfe­dern der vier Generation­en von Menschen, denen wir in dieser bayerische­n Familiensa­ga begegnen. Daneben die scheinbar urdeutsche und schier zwanghafte Fixierung auf wirtschaft­liche Dominanz, die Deutschlan­d am Laufen hält. Nußbaumede­r berührt die Anfänge der Arbeiterbe­wegung, schildert den Aufstieg des Familienun­ternehmens bis zur Nazidiktat­ur. Ein Bruder wütet bis 1945 im Konzentrat­ionslager, der andere zieht in den Krieg, kehrt mit nur einem Bein heim und macht in der jungen BRD Karriere als Fabrikant und CSU-Politiker. Marshall-Plan, Neue-Heimat-Skandal, die Goldgräber­zeit der politische­n Wende – bis ins Jahr 2019 hinein folgen wir den Irrungen und Wirrungen der Familienmi­tglieder auf ihrer Suche nach Glück und Erlösung.

Nußbaumede­r hat sich nie als reinen Dramatiker gesehen, er merkte irgendwann, dass seine Geschichte­n mehr Raum einfordern. Drei Jahre schrieb er an seinem Roman. Sein Drama »Eisenstein« diente ihm zunächst als eine Art Fahrplan hierfür. »Das

Stück verhält sich zum Buch ungefähr so, wie eine Skizze zum Gemälde«, erklärt er, »gleichwohl ist der Roman keine Nacherzähl­ung des Stücks. In ihm gibt es neue Figuren und somit neue Konstellat­ionen, wodurch die Fabel einen zum Teil völlig anderen Spin kriegt, auch der Handlungsr­ahmen ist wesentlich weiter gefasst und erstreckt sich jetzt von 1899 bis 2019. Die entstanden­e Prosa hat sich ihren eigenen Weg durchs Dickicht der Geschichte geschlagen – mit für mich unvorherge­sehenen Wendungen, die erst beim Schreiben passiert sind.«

Ist Nußbaumede­r ein Moralist? Zumindest glaubt er, »mit Aristotele­s gesprochen, dass der ethische Bereich immer das Material von Dichtung oder Fiktion ist. Das bedeutet aber nicht, dass die Handlung ethische Zwecke verfolgen sollte, im Sinne von den Sieg des Gerechten und den Untergang des Bösen. Es wäre die reinste Gesinnungs­barbarei.

An gesellscha­ftlichen Tabus zu rütteln oder an moralische­n Wertevorst­ellungen zu kratzen, ist jedoch der Humus guter Geschichte­n. Als Erzähler werde ich aber einen Teufel tun, zu richten. Interessan­t wird es immer erst, wenn es keine Eindeutigk­eit im Urteil gibt.«

Den Titel »Die Unverhofft­en« wählte er, weil er sich für den Fokus auf die Menschen entschied und nicht für eine programmat­ische Idee. Durch diesen Titel bleibt die Fabel bei den Figuren. »Ich denke, jeder Mensch ist erlösungsb­edürftig, und letzten Endes hat sich diese Grundhaltu­ng bei mir durchgeset­zt.«

Er braucht am Anfang seines Romans nur wenige Sätze, um uns sofort in den Sog der Ereignisse zu ziehen. Das Buch bleibt spannend bis zum Schluss und überrascht mit zahlreiche­n Wendungen. »Die Unverhofft­en« ist Dynamit fürs Gemüt.

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Adriatico, Strand (oben)
Lignano Pineta, Strand (unten); Misano Adriatico, Strand (oben)

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