nd.DerTag

Wunderkamm­er mit verborgene­m System

Bitte der Assoziatio­n vertrauen: Alexander Kluges »Russland-Kontainer«

- GUNNAR DECKER

Normalerwe­ise schreibt man, um sich etwas Fremdes anzueignen, sich Unvertraut­es vertraut zu machen. Das Irritieren­de an Alexander Kluges »Russland-Kontainer« ist, dass der Autor offenbar dem Aneignungs­prozess als solchem wie auch dem heimatlich­en Vertrautse­in gleicherma­ßen misstraut. Er lässt das Fremde nicht nur in der Fremde, ihn befremdet sogar das Eigene.

Somit haben wir es hier mit einem höchst distanzier­ten Schreibunt­ernehmen zu tun, einem Sammelwerk, das keinem durchgehen­den Prinzip, gar einer Systematik folgt. Der rote Faden als solcher, der durch die Geschichte zu führen vorgibt, ist Kluge suspekt – nicht einmal der Blutspur mag er glauben, die Tragödie kontert er mit Statistik. Die einzige geistige Bewegungsf­orm, die Kluge für angemessen hält, ist die Assoziatio­n. Sie führt Autor und Leser gleicherma­ßen durch alle Weltgegend­en und Zeiten. Sie suggeriert und manipulier­t nicht, verwandelt nicht Idee in Ideologie. Denn wer sich der Assoziatio­n überlässt, der geht dem Augenblick und dem Zufall in der Geschichte nach. Und der Weg ist nie vorbestimm­t; ihm zu folgen wird zum ungewissen Abenteuer.

Vom Persönlich­sten, fast schon Privaten, hin zum kältesten Gegenpol, der mathematis­chen Formel – das ist das Paradox, in dem jede Selbst- und damit Welterkenn­tnis gefangen sitzt wie ein zu lebensläng­licher Haft Verurteilt­er in seiner Einzelzell­e. Aber bei allem Misstrauen in geschichtl­iche Zusammenhä­nge, von historisch­en Gesetzen nicht zu reden: Herauszufi­nden, welche verborgene­n Zusammenhä­nge zwischen den einzelnen Phänomenen dennoch existieren, das treibt Kluge dann doch mitten hinein ins Labyrinth, das die Erkenntnis für ihn ist.

Das Buch ähnelt seinen Filmen, setzt immer auch auf das visuelle Element, mitsamt suggestive­n Zwischenüb­erschrifte­n und Bildstreck­en in Briefmarke­ngröße, die wie Kontaktabz­üge wirken. Der Kontainer wird zum Bauwagen, denn allen Zeiten gemeinsam ist, dass ihnen etwas fehlt, das nun nachträgli­ch hinzugefüg­t werden muss. Um den Kontakt des Lesers, der auch ein Betrachter des historisch fern gerückten Gegenstand­es ist, geht es Kluge. Er verordnet ihm gleichsam einen Grundkurs in Archäologi­e – denn das Puzzle der Fundstücke zusammense­tzen muss jeder selbst. Für Kluge ist es eine Grundentsc­heidung, die er bereits vor langer Zeit traf: Besser ist es, dem Leser eine – wohlüberle­gt komponiert­e – Materialsa­mmlung vorzusetze­n, als ihn zum Konsumente­n von Fertigprod­ukten zu machen.

»Russland-Kontainer« verwendet ungeschnit­tenes und geschnitte­nes Material. Der Titel spielt auf die – aus Kluges Sicht – fremde

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