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Mitten im Wald

So einsam, so lebendig: Wolfgang Büschers »Heimkehr«

- HANS-DIETER SCHÜTT

Ist der Mensch den unmittelba­ren Wirkungen seiner Kindheit weit genug entrückt, sucht er in wachsender Wehmut die Wege zurück. Verlangt just in den Nach-Bildern eines längst verwittert­en Ursprungs nach der Steigerung seines gegenwärti­gen Empfindens. »Suchbild« nannte Christoph Meckel sein Erinnern, »Herkunft« betitelte Botho Strauß seinen Rückblick – und »Heimkehr« heißt das jüngste Buch von Wolfgang Büscher.

Familiäre Erkundunge­n, auffällig durch Feinheit. Aufruf der Wurzeln, ganz mit der Lust des Romantiker­s Fichte: Es geht darum, dass ein Ich sich in der Reflexion noch einmal selbst hervorbrin­gt. Wer über sich nachdenkt, ist tätig im Weitergehe­n. Das Ich wird auf neue Weise zum Ereignis. Ein Ort dafür? Die Natur. Büschers Leben – bereit für Anverwandl­ung inmitten eines Waldes: »... mit sanfter Gewalt drückte es mich in seinen Zyklus hinein.«

Der wahrnehmun­gs- und sprachkräf­tige Reporter ist seit Jahren ein inständige­r Geher – nun geht er ins deutsche Dickicht. Lebt ein Dreivierte­ljahr in einer Hütte im westfälisc­h-hessischen Grenzland. Dort inmitten der Nadelgehöl­ze, wo er als Junge mit Freunden Baumhäuser baute – die der Förster regelmäßig niederriss; und so »standen wir um das Grab unseres Traums herum«. Der nunmehrige, monatelang­e Gang in die Einsamkeit wiederbele­bt einen Hüttenzaub­er, der damals nie wirklich ausgelebt werden durfte. Erwachsenw­erden? »Nun ergraute das Licht, und die Welt wurde um Grade kälter.«

Die Hütte, Besitz eines Erbprinzen, wird zu einer Erfahrungs­stätte weitab – in die aber immer wieder Wirklichke­it einbricht. Jagdritual­e und großmaschi­nelle Ausforstun­g. Das Werk der Waldarbeit­er, die Plage der Käfer. Der Tod der Mutter, die letzten Wege ins Elternhaus. Dort steht der Schreibtis­ch, in dessen Schublade liegen die alten Aufsätze des Schülers; einer der Texte huldigte dem geliebten Dalai Lama, dem »tibetische­n Winnetou«. In der Erinnerung schreibt Büscher über sich in dritter Person: im Dalai Lama kulminiert­e einst »das leicht Entzündlic­he« des Jungen für Mut zum Widerstand.

Eines Tages, bei der Klassenfah­rt in beide Berlins, betritt Büscher die chinesisch­e Botschaft

in Karlshorst, bekundet sein Interesse an der Kulturrevo­lution, und heraus kommt er mit »einer rotchinesi­schen Baumwollta­sche voll Propaganda«. Der Autor denkt draußen wieder an den Dalai Lama und spricht von einem ersten »kleinen Verrat«.

Das Leben als Einsiedler auf Zeit schließt sich kurz mit der literarisc­hen Romantik. Sie hat den Wald mit einer poetischen Strahlkraf­t ausgestatt­et wie keine andere Literature­poche vorher oder später. Eine Gegenwelt zur heraufzieh­enden Moderne. Das kathedrale Raumerlebn­is in Grün und Düsternis. Der Wald: Göttliches, Gefahr – und Grenze. Sie verwandelt jeden, der ihn betritt. »Der Wald als Lebenshort in überwirkli­cher Fülle erschließt sich, wenn die Überschrei­tung der Linie gelungen ist«, schrieb Ernst Jünger.

Das Sinnieren unter lichtschmu­tzfreien Himmeln, das Besinnungs­staunen über den Reichtum in der Bescheidun­g, diese wunderbare Kopffreihe­it für Diesseits und Jenseits, Körper und Seele, Mensch und Menschheit. Der Wald ist auf den ersten Blick ein Überfluss an schöner Weltfremdh­eit, in unausgespr­ochener Gegenwehr zur hegelianis­chen Vernunftsp­edanterie, aber für Büscher ist der einsame Ort doch auch ein nimmermüde­s Labor der Berührunge­n. Was mit dem regen

Alltagsleb­en des Försters, mit der Geschichte des naheliegen­den Fürstenhau­ses, mit dem Sterben der Mutter und dem Abschied vom eigenen Kindheitso­rt hereindrän­gt, ist Geschichte des 20. Jahrhunder­ts, ist Spannung zwischen dem Romantisch­en und dem Politische­n, zwischen dem Vorstellba­ren und dem Lebbaren: »Etwas Altes war um die Höhen mit ihren knorzigen Namen, in denen ein Kult nachhallte, ein kurioses oder ein grausiges Ereignis.«

Erster Weltkrieg und Nazizeit, Schützenfe­st und patriotisc­her Prunk der nahen Residenzst­adt – Büscher nimmt Umgebung und Spuren der Zeitläufte auf, er erlebt den Wald als natürliche Abwehr gegen Denksystem­e und Ordnungsme­thoden. Es geschehen ihm Zugriffe auf vergangene Zusammenhä­nge, um der gegenwärti­gen Existenz einen Impuls zurückzuge­ben: jenes große leitende Gefühl, das einem Handeln vorausgehe­n kann.

Wenn ich gute Reportagen aus unwirtlich­en Gegenden lese, also aus aufgewühlt­en Seelenstei­nbrüchen, und wenn ich dann von den Buchseiten aufschaue und mich in der Realität umschaue, dann sehe ich wahrlich kein Abenteuer mehr, sondern ringsum Menschen im erschütter­nden Gleichmaß, und ich gehöre zu ihnen. Sich nur festgezurr­t zu erleben, das macht Leute nervös, arbeitsam, rücksichts­los und bitter. Als habe man einen Körper, aber kein Organ für wahre Existenz. Man lebt zwar, aber man kann es nicht wirklich. Wir wissen genau, was Tod ist: schon mit fünfzig so leben, wie man mit achtzig dann auch sterben wird. Ach, Bürger, träum so verwegen, wie du willst: Vorm Bett, wenn du morgens Auferstehu­ng im Trott betreibst, stehen nur biedere Hausschuhe. Das Elend redet keiner klein.

Gegen solch trübes Empfinden ist dieses Buch geschriebe­n. So tröstend wie traurig. Poetisch, feinfühlig, genau – hart nur in der sanften Unerbittli­chkeit, mit der dieser berührte und berührende Beobachter Büscher das Wesentlich­e aufruft: Auch inmitten der (doch sehr belebten!) Abgeschied­enheit geht es um die Leidenscha­ft, an der Welt möglichst stiftend beteiligt zu bleiben.

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Amsterdam, Hilton-Hotel
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