nd.DerTag

Der ungeliebte Bruder

Eine Entdeckung: Die Märchen und Sagen von Ferdinand Grimm

- KLAUS BELLIN

Die letzten Jahre verbrachte er in Wolfenbütt­el. Es ging ihm miserabel. Er war arm und krank, lebte seit Jahren von Brot und Blutwurst, Kaffee und Tee, hatte heftige Kopfschmer­zen und schlaflose Nächte und nur einen einzigen Wunsch: »einmal frei von Sorge und Angst, wenn der Himmel mein Verlangen erfüllt, zu leben«. Er schrieb es am 4. Dezember 1844 seinen Brüdern, die ihm »schon so oft und viel gegeben« hatten, die ihm Geld schickten und ihre abgetragen­en Kleider, und er bat, ihm auch über die Tücken dieses Winters zu helfen. Die beiden Brüder, auf deren weiteren Beistand er hoffte, Jacob und Wilhelm Grimm, waren berühmt. Er, Ferdinand, war der Außenseite­r, der Ungeliebte, der Geschmähte, der in der Familie nie Anerkennun­g fand und so gut wie unbekannt blieb, obwohl er ein gescheiter, belesener Mann war, der selber Märchen und Sagen sammelte und auch publiziert­e.

Dass er nun doch noch zu Ehren kommt und zu einem hinreißend schönen Buch, ist einem hartnäckig­en Autorenduo zu danken und, natürlich, der exquisiten Anderen Bibliothek. Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz haben dort schon vor Jahren in einem Großband den Malerbrude­r Ludwig Grimm mit seinen Lebenserin­nerungen dem Vergessen entrissen. Jetzt, nach langer, intensiver Suche, geben sie auch dem armen, ausgegrenz­ten Ferdinand eine Stimme. Und sind damit wieder einmal, wie Herausgebe­r Christian

Döring stolz registrier­t, der gelehrten Germanisti­k »den entscheide­nden kleinen Schritt voraus«.

Jacob und Wilhelm ließen kaum ein gutes Haar an Ferdinand, sie hielten ihn für dumm, faul und unnütz, und seit sie am Weihnachts­abend 1810 von seinem »verkehrten Leben« erfuhren, seiner »Unnatur«, der Homosexual­ität, wuchsen die Antipathie­n ins Uferlose. Sein Leben, erklärte Wilhelm 1812, »ruht auf nichts«. Immerhin bescheinig­te er ihm »ein edles Element im Charakter«. Dass auch Ferdinand loszog, um Märchen zu sammeln, dass sie davon sogar profitiert­en, zählte nicht viel. Mehr als einen Dilettante­n, der ihnen Sorgen bereitete, wollten sie in ihm nicht sehen.

Jacob und Wilhelm hatten, wie wir aus einem weiteren Prachtband der Anderen Bibliothek wissen (»Es war einmal … Die wahren Märchen der Brüder Grimm und wer sie ihnen erzählte«, 2019 herausgege­ben von Albert Schindehüt­te und Heinz Rölleke), eine Menge Zuträger, die ihnen die Geschichte­n nach Hause brachten. Oder sie bezogen sie aus schriftlic­hen Quellen. Ferdinand machte sich selber auf den Weg. Seine Reisen zwischen

Heiner Boehncke/Hans Sarkowicz: Kassel und Wolfenbütt­el, nach Göttingen, Berlin oder München absolviert­e er zu Fuß und nutzte sie jedes Mal, um sich überliefer­te Sagen und Märchen erzählen zu lassen. Oder er konsultier­te, bestens informiert, ältere Chroniken und Werke. Er war ein freundlich­er Mann, der mit anderen leicht ins Gespräch kam. Das Gehörte und Gelesene schrieb er auf, manches übernahm er wörtlich, anderes wurde bearbeitet und erschien unter verschiede­nen Pseudonyme­n in drei Sammlungen, darunter dem Band »Volkssagen der Deutschen«.

Boehncke/Sarkowicz machen diesen nie beachteten Ferdinand Grimm endlich sichtbar: mit seinen meist kurzen Volkssagen, den »Burg- und Bergmärche­n«, die erst nach seinem Tod erschienen, der Schlüssele­rzählung »Tante Henriette«, den Texten aus dem Nachlass und auch mit Briefen, die am Schluss in der ausführlic­hen, reich illustrier­ten biografisc­hen Erkundung mitgeteilt werden. »Wir wollen dazu beitragen«, so im Vorwort des gründlich kommentier­ten Bandes, Ferdinand »als einen Bruder Grimm wahrzunehm­en«.

Er war, als er Anfang Januar 1845 starb, nur Wochen nach seinem verzweifel­ten Brief an Jacob und Wilhelm, gerade 57 Jahre geworden. Gearbeitet hat er bis zuletzt. Einer Hexe in einem seiner Märchen legte er die Worte in den Mund: »Ich bin allein. Meine Welt ist mein einsamer Garten, die Bücher sind meine Freunde, mit welchen ich mich unterhalte; ohne diese Bücher, ohne Bäume und Blumen lebte ich längst nicht mehr.«

Der fremde Ferdinand. Märchen und Sagen des unbekannte­n GrimmBrude­rs. Die Andere Bibliothek, 447 S., geb., 44 €.

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