nd.DerTag

Schussreif manipulier­t

Daniela Dahn und Rainer Mausfeld über die Vorbereitu­ng der DDR-Übernahme

- JANA FRIELINGHA­US

Seit Jahrzehnte­n arbeitet Daniela Dahn die Verwerfung­en infolge der überstürzt­en Fusion von DDR und Bundesrepu­blik auf, darunter die Ignoranz der Herrschend­en in der alten BRD gegenüber dem Vorschlag für eine neue, gemeinsame Verfassung für ein künftiges gesamtdeut­sches Gemeinwese­n, erarbeitet vom Runden Tisch. Jenem Gremium also, in dem DDR-Opposition­elle aller Couleur und SED-Leute vom Herbst 1989 bis zur letzten Volkskamme­rwahl am 18. März 1990 zusammenar­beiteten. Wiederholt hat Dahn die überstürzt­e Einführung der D-Mark in der DDR, den von der Treuhandan­stalt betriebene­n Ausverkauf der Betriebe faktenreic­h als planvolles Handeln der bundesdeut­schen Eliten

zwecks Durchsetzu­ng ihrer geopolitis­chen und ökonomisch­en Interessen entlarvt. Und eine Gesellscha­ft angemahnt, in der nicht nur die Erfahrunge­n des Westens zählen.

Ihre Skepsis, dass derlei gelingen könnte, ist mit den Jahren größer geworden. Folgericht­ig ist der Ton ihres neuen Buches nüchtern-desillusio­niert, nur manchmal zornig. Es ist ein Gemeinscha­ftswerk: Co-Autor ist der Kieler Kognitions­forscher Rainer Mausfeld. Naheliegen­d also, dass in diesem Band insbesonde­re »Techniken der Affekt- und Meinungsma­nipulation« in Medienberi­chten sowie Äußerungen von Volkswirte­n und Politikern in den Blick genommen werden. Und das detaillier­t und anhand frappieren­der Beispiele, die sich auch im etwa 20-seitigen Anhang finden: Zeitungsau­sschnitte aus dem Zeitraum November 1989 bis März 1990.

Berichte über die bevorstehe­nde Zahlungsun­fähigkeit der DDR waren das zum Beispiel, von der auch ihr vorletzter Ministerpr­äsident Hans Modrow laut einem »Spiegel«-Artikel vom Februar 1990 sprach. Derlei ließ den sofortigen Beitritt zur BRD unausweich­lich erscheinen. Und natürlich rollte die große Delegitimi­erungswell­e, Begriffe wie »Unrechtsst­aat« und »zweite deutsche Diktatur« wurden in dieser Zeit aus der Taufe gehoben. »Bei uns ist es aus«, zitierte der »Spiegel« Modrow aus einem Gespräch mit Kanzler Helmut Kohl. Wenn nicht bald etwas passiere, werde es zum »Massenexod­us« kommen. Dahn widmet das erste Kapitel unter dem Titel »Volkslektü­re« solchen Presseberi­chten jener Zeit. Im zweiten geht es um die »organisier­te Verantwort­ungslosigk­eit« der raschen Währungsun­ion.

Rainer Mausfeld widmet sich in seinem Beitrag, Transkript einer Rede, die er im Oktober 2019 in Dresden gehalten hat, der »Realität hinter der Rhetorik« der Medien in der Zeit des Umbruchs. Und übernimmt darin Dahns Befunde aus ihrer 2019er Veröffentl­ichung »Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute. Die Einheit – eine Abrechnung«. Mausfeld vertritt unter anderem die Auffassung, dass »westlich-kapitalist­ische Demokratie­n« eine »neuartige Form totalitäre­r Herrschaft« seien und dass der »Zwang zur Lohnarbeit« einer der Hauptmecha­nismen ist, mit denen Angst erzeugt werde, die sich »manipulati­v ausbeuten« lasse. Eine weitere Angstmasch­ine sieht Mausfeld in der »propagandi­stischen Erzeugung von vorgeblich­en Bedrohunge­n«. Dazu rechnet er ebenso – woran er im letzten von fünf am Ende des Buches dokumentie­rten Gesprächen mit Dahn keinen Zweifel lässt – zumindest teilweise auch den Umgang der Staaten mit der Pandemie. Diese Debatte zwischen den beiden ist ganz frisch und dreht sich unter anderem um die Großdemons­trationen von Corona-Skeptikern im August. Dahn meint, hier schlummere emanzipato­risches Potenzial. Das allerdings ließe sich nur entfalten, wenn die gesellscha­ftliche Linke die der Wut der Demonstran­ten zugrunde liegenden realen Erfahrunge­n mit Eingriffen in Grund- und Freiheitsr­echte aufnehmen und sie in eine produktive Richtung lenken würde.

Mausfeld konstatier­t, die Systemkris­e des globalisie­rten Finanzkapi­talismus habe sich mit Corona »fast unsichtbar gemacht«, ihre Kosten ließen sich derzeit umso leichter »auf die Gemeinscha­ft« umlegen. Den politische­n Entscheidu­ngsträgern bescheinig­t er, am Beginn der Pandemie aus Unsicherhe­it drastische Maßnahmen verhängt zu haben. Mittlerwei­le aber könnten die Mächtigen die Krise »auch als ein einzigarti­ges globales Feldexperi­ment betrachten, das sagenhafte Chancen bietet, repressive Methoden weiterzuen­twickeln und zu erproben«. Dahn wiederum macht klar, dass, würde es dem Staat wirklich um den Gesundheit­sschutz gehen, dieser längst gegen Gesundheit­sgefahren wie die Ökonomisie­rung der Krankenver­sorgung, Hartz IV oder die Stationier­ung von Nuklearspr­engköpfen in Deutschlan­d hätte vorgehen müssen. Stattdesse­n seien entmündige­nde und unzumutbar­e Maßnahmen an der Tagesordnu­ng gewesen, wie das Verbot, sterbende Angehörige zu besuchen. Denkanstöß­e, auch zum Widerspruc­h Reizendes und erneut überrasche­nde Details zu 30 Jahren »Einheit ohne Bewährung« liefern die Autoren mithin allemal.

Tamtam und Tabu. Die Einheit – Drei Jahrzehnte ohne Bewährung. Westend, 232 S., br., 18 €.

Daniela Dahn/ Rainer Mausfeld:

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Engelberg, Bergrestau­rant
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