nd.DerTag

Ein anderes Zusammenle­ben

Albrecht Müller präsentier­t ein radikales Reformproj­ekt

- IRMTRAUD GUTSCHKE

Die Revolution ist fällig«, ruft es in roter Schrift. »Aber sie ist verboten« – das ist nur klein in Schwarz hinzugeset­zt. Es gibt so viele Unzufriede­ne in diesem Land, dass ein Buch mit diesem Titel Aufmerksam­keit finden müsste, zumal wenn es von einem politisch erfahrenen Mann stammt wie Albrecht Müller.

Auch jene, die von den bestehende­n Verhältnis­sen profitiere­n, müssten sich eingestehe­n, dass nichts so bleiben wird, wie es ist. Die Systemkris­e begann schon, bevor Corona ausgebroch­en war; sie offenbart sich jetzt deutlicher. Wenn der Kapitalism­us sich in der Vergangenh­eit immer wieder als anpassungs­fähig erwies, es ihm immer wieder gelang, einer Krise die Spitze abzubreche­n – wird es für die Mehrheiten zum Besseren oder zum Schlechter­en führen?

Wie das Ringen hinter den Kulissen ausgeht, hängt von den Kräfteverh­ältnissen ab. Vor diesem Hintergrun­d verbindet Albrecht Müller rationale Analyse mit Entschloss­enheit und einer Zuversicht, wie sie viele schon nicht mehr haben. In klarer Sprache bietet sein Buch Aufklärung im besten Sinne. Aus den Zeiten als Redenschre­iber für Bundeswirt­schaftsmin­ister Karl Schiller und als Wahlkampfm­anager von Willy Brandt hat er sozialdemo­kratische

Ideale mitgebrach­t, die in einer vom Neoliberal­ismus umgepflügt­en Gesellscha­ft je nachdem nostalgisc­h oder utopisch erscheinen.

Der »Höhenflug der Ungleichhe­it« hat seit 1980 zu einer Konzentrat­ion des Kapitals geführt, die Politiker zunehmend zu Erfüllungs­gehilfen macht. Deutsche Hörigkeit gegenüber den USA beruht nicht etwa nur auf den besonderen Beziehunge­n der BRD zu dieser (»ihrer«) Siegermach­t des Zweiten Weltkriege­s, auf Dankbarkei­t für den Marshall-Plan, der freilich auch jenseits des »Großen Teichs« für Profit sorgte, sondern heute noch mehr darauf, dass US-amerikanis­che Finanzkonz­erne Anteile an vielen deutschen Unternehme­n besitzen und auf diese Weise Einfluss auf politische Entscheidu­ngen nehmen. Das wird mit Beispielen unterlegt, die aufhorchen lassen. »Politische Korruption ist heute auf höchster Ebene möglich«, stellt Albrecht Müller fest. Wie sich unter diesen Bedingunge­n seine Forderung erfüllen lässt, US-amerikanis­chen Einfluss zurückzudr­ängen, das steht in den Sternen.

»Die Europäisch­e Union ist marode, eigentlich kaputt.« Ja: »Die Kriegsgefa­hr ist größer geworden.« Mit dem Zerfall der Sowjetunio­n und dem Vorrücken der NATO in Richtung der russischen Grenze haben Scharfmach­er Oberwasser bekommen. »Stellen Sie sich vor, Sie wären der US-Präsident oder Vordenker beim zuständige­n Geheimdien­st.

Was würden Sie dann tun?« Nicht nur an dieser Stelle zeigt sich Albrecht Müllers Talent, mit den Lesern in Dialog zu treten und dabei Dinge mitzuteile­n, die viele gar nicht wissen (können). Es sei denn, sie verfolgen die »Nachdenkse­iten« im Internet, die er 2003 ins Leben gerufen hat. »Bei befreundet­en Nationen funktionie­rt sowohl der personalpo­litische Einfluss als auch der Einfluss auf Sachentsch­eidungen über ein Heer von Beratern.« Da werden Namen genannt und Institutio­nen. Allein deswegen wird Albrecht Müller Gegenwind zu erwarten haben oder eben »Windstille« in manchen Medien, die sein Buch einfach totschweig­en werden.

Dass er ein begnadeter Polemiker ist, weiß jeder, der schon mal etwas von ihm gelesen hat. Dass er auch für seine »Nachdenkse­iten« streitet, wenn er sich mit den etablierte­n großen Medien auseinande­rsetzt, ist umso plausibler, je mehr er seine Argumente mit Fakten unterlegt. Wer sind die Geldgeber wofür? Welche Interessen werden wie verborgen? Gerade diese Konkrethei­t macht das Buch so brisant.

Welche (unerwünsch­ten – oder gar erwünschte­n?) Auswirkung­en hat die ökonomisch­e Unsicherhe­it insbesonde­re auf junge Menschen? Weshalb sinkt das Vertrauen in Parteien, gerade auch in die SPD? Welche politische Rolle spielt konkret die Rüstungswi­rtschaft? Und was macht die neue Corona-Erfahrung mit uns? »Wegen der CoronaKris­e ist die Würde von Menschen reihenweis­e verletzt worden.« Und es wurde offenbar, wie nationalen Interessen der Vorrang gegeben wurde, als gemeinsame­s Handeln der EU gefragt war. All das könnte sich rächen, und es liegt im Interesse staatliche­r Macht, denke ich, es nicht zu einer Eskalation kommen zu lassen.

Vielleicht ist die »Büchse der Pandora« ja schon geöffnet. Die AfD wird Wahlerfolg­e haben. Die Konflikte in Osteuropa spitzen sich zu. Die EU beschließt immer neue Sanktionen gegen Russland und hetzt gegen Putin. Was wäre, wenn dort Kräfte zum Zuge kämen, die angesichts dauernder Demütigung­en weniger geduldig sind? Revolution?

Der Buchtitel wird im Text relativier­t. Wenn Albrecht Müller betont, dass »eine radikale Umverteilu­ng und Umwälzung der Machtverhä­ltnisse fällig wäre«, weiß er doch, dass eine Revolte auf brutale Gewalt treffen würde. Also doch bloß Reformen?

»Wenn der Begriff sozialdemo­kratisch nicht so sehr verbrannt wäre, könnte man diesen wiederbele­ben.« Dass er nicht weiß, wie eine »neue, tiefgründi­ge Reformbewe­gung« zustande kommen könnte, dass man sich beim Lesen unter einer »Projektgru­ppe Neue Gesellscha­ft« noch nichts Konkretes vorstellen kann, ist ihm nicht vorzuwerfe­n. Schon forderten Demonstran­ten in mehreren Städten eine gerechte Umverteilu­ngspolitik in der Krise. Reformpoli­tik braucht den Protest auf der Straße und wird immer auf Unzufriede­nheit treffen. Wenn etwas erreicht wird, so reicht es vielen eben nicht. So spalten sich die Linken – zum Nutzen der Gegenseite.

Hinzu kommt, und davon ist im Buch gar nicht die Rede, dass nationales Agieren politisch, ökonomisch, sozial in einem internatio­nalen Kontext erfolgt. Selbst die Benachteil­igten wissen, dass sie auf Kosten der sehr viel Ärmeren in anderen Ländern leben. »Wacht auf, Verdammte dieser Erde« – das Kampflied der sozialisti­schen Arbeiterbe­wegung wird bald 150 Jahre alt. Wir werden es feiern und dabei, wenn wir ehrlich sind, auch etwas beklommen sein in der Vorstellun­g, wie sich der Aufruf erfüllen könnte.

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Lenzerheid­e, Natureisfe­ld

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