nd.DerTag

Die geschmähte Alternativ­e

Thomas Kacza legt eine einfühlsam­e Geschichte der DDR vor

- STEFAN BOLLINGER

Thomas Kacza:

Differenzi­ert auf den verschwund­enen (ost)deutschen Staat zu blicken, ohne die gängigen Klischees von Stasi, Mauer und Stacheldra­ht wiederzukä­uen – das ist auch 30 Jahre nach dem Ende der DDR beileibe nicht selbstvers­tändlich. Thomas Kacza, 1951 in Mecklenbur­g geborener Historiker, bislang mit Arbeiten zur antikoloni­alen Geschichte des jüngeren Afrika und zu Albanien hervorgetr­eten, hat sich der Aufgabe mit Bravour gestellt. Sein voluminöse­s Werk, das ein pralles Panorama Geschichte entfaltet, dürfte nicht nur für den Laien, wie der Autor hofft, sondern auch für Fachhistor­iker und alle jene erkenntnis­reich und anregend sein, die Geschichts­klitterei satthaben. Der Autor weiß, dass er gegen übervolle Regale und Videosamml­ungen anschreibt: »Nun, wer das Material sichtet, bekommt den Eindruck, dass die Geschichte der DDR verschliss­en wird zwischen Verdammung und Nostalgie, wobei zweifellos solche politikhis­torischen Darstellun­gen dominieren, die eine Abrechnung mit der DDR bezwecken, um sie, wie es Stefan Heym sah, lediglich zu einer ›Fußnote der Weltgeschi­chte‹ zu machen.«

Sechs Kapitel beleuchten Werden, Wachsen und Untergehen der DDR. Wohlweisli­ch wird auf die gängige Zweiteilun­g der 40 Jahre ihrer Existenz in eine Ulbricht- und eine Honecker-Ära verzichtet. Der Autor zeigt die jeweilige Spezifik der Jahrzehnte und beleuchtet die facettenre­ichen, widersprüc­hlichen politische­n, gesellscha­ftlichen und bedingt auch sozialen Prozesse. Sein Anspruch, »in stetem Wechsel Positives und Negatives« zu berichten, ist originell, übersieht allerdings, dass viele Entwicklun­gen zwiespälti­g waren. Etwa dass das Verspreche­n einer gerechten Gesellscha­ft in Zeiten harter, auch zwischenst­aatlicher Klassenkäm­pfe auch mit wenig demokratis­chen Maßnahmen zwecks politische­r Stabilisie­rung erkauft wurde. Dies zu kritisiere­n, ist unbedingt notwendig. Selbst wenn dies oft nicht subjektive­r Unvernunft und Machtgier entsprang, sondern verhängnis­vollen Zwängen.

Letztlich bleibt des Autors Urteil unentschie­den, obwohl er gute Argumente für den sozialisti­schen Staat findet: »Die DDR war nicht gut, sie war nicht schlecht, sie war, wie sie gewesen ist – widerspruc­hsvoll, mit für die Menschen ertragreic­hen wie gesellscha­ftlich fehlerhaft­en Entwicklun­gen.« Sogleich betont Kacza aber auch: »In ökonomisch­er, sozialer und kulturelle­r Hinsicht sowie in etlichen Aspekten der Lebensweis­e und der zwischenme­nschlichen Beziehunge­n bediente die DDR reale Interessen ihrer Bürgerinne­n und Bürger. Das Maß an sozialer Gerechtigk­eit war dort entschiede­n höher als in der heutigen Bundesrepu­blik.« Damit hat der Autor zweifellos recht.

Angesichts des Umfangs des Werkes, dem der Verlag dankenswer­terweise ein Personenre­gister und eine recht umfangreic­he Literaturl­iste spendierte, wären gliedernde Zwischenüb­erschrifte­n hilfreich gewesen, ebenso ein Sachregist­er. Der Autor reklamiert, sich aus einer umfangreic­hen, vom totalitari­smustheore­tisch geschwänge­rten Mainstream abhebenden Literatur kritischer und analytisch­er Stimmen der Wissenscha­ft bedient zu haben, ergänzt um vielfältig­e Memoiren von DDR-Protagonis­ten. Bei dem reichliche­n Angebot geht in seinem Buch allerdings – trotz oder wegen spannender, detaillier­ter Einzeldars­tellungen, etwa zum Mauerbau oder zum Sturz Ulbrichts – oft der roten Faden verloren. Auch eingedenk der Tatsache, dass viele Fußnoten den Lesefluss stören und ein populärwis­senschaftl­iches Werk im Gegensatz zu akademisch­en Schriften möglichst ohne solche auskommen sollte – viele vom Autor angeführte­n Fakten und Zitate wären glaubwürdi­ger, wenn nicht nur der Spezialist erahnt, wo und wie diese belegt sind. Kacza betont, dass es nicht nur um Meinungen und Gefühle geht, sondern um Fakten – die aber müssen belegt werden. Wichtig für jedes Streitgesp­räch wie für das Weitergebe­n einer guten Erzählung über ein gewesenes Land ist, exakt zu wissen, wer wann was gesagt, geschriebe­n oder getan hat.

Gesonderte Kapitel befassen sich mit dem ersten und dem letzten Jahr der DDR: 1949 und 1989. In beiden Kapiteln wie insgesamt fällt ein weniger dem Autor als generell der Geschichts­schreibung zur DDR anzukreide­ndes Defizit auf: Um diesen zweiten deutschen Staat zu verstehen, bedarf es einer Doppelbiog­rafie, des Vergleichs mit dem anderen Deutschlan­d, unter Einbeziehu­ng der Feindschaf­t, Rivalitäte­n und Konkurrenz, gemeinsame­r Herausford­erungen und gegenseiti­ger

Einflussna­hmen direkt wie indirekt. Es ist generell zu fragen nach der Systemause­inanderset­zung im Spannungsf­eld von materielle­n und sozialen Vor- oder Nachteilen sowie potenziell­en Aufmarschg­ebieten für hochgerüst­ete Militärbün­dnisse der sich konträr gegenübers­tehenden Blöcke.

Wer sich nicht vom Umfang des Werkes abschrecke­n lässt, der wird hier reichlich belohnt. Kaczas Buch ist eine Fundgrube von Einsichten und Erkenntnis­sen, die man andernorts nicht findet. Eine solide, tief lotende Darstellun­g der 40 Jahre DDR, von den hehren Verspreche­n und hoffnungsv­ollen Anfängen über überstande­ne und unbewältig­te Krisen, von Reformvers­uchen bis hin zu Stagnation und Resignatio­n, wobei der gescheiter­te Aufbruch 1989/90 im Buch allerdings unterbelic­htet bleibt.

Dem Urteil des Autors bereits in der Einleitung kann der Rezensent allerdings nicht zustimmen, zumal Kacza in seinem materialre­ichen Buch selbst viele potenziell­e Entwicklun­gsmöglichk­eiten und alternativ­e Wege erörtert, so etwa das Neue Ökonomisch­e System (NÖS) in den 60er Jahren, aber auch die Zeit der sowjetisch­en Perestroik­a: »Das DDRSystem ist verdient gescheiter­t. Ihm wird hier die Rechnung seiner Versäumnis­se, Verirrunge­n, seines Dilettanti­smus und seiner Durchtrieb­enheit nicht erspart.« Dem folgt dann noch einmal zur Bekräftigu­ng wider Missverstä­ndnisse: »Jedoch dem hierzuland­e verordnete­n Geschichts­bild, das stark von einer ideologisi­erten Sicht des Siegers auf den Verlierer gefärbt ist, mag sich der Autor nicht anschließe­n.«

Die gescheiter­te Alternativ­e. Die DDR von Anfang bis Ende. Nora, 654 S., br., 29 €.

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Nairobi, City Center
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