nd.DerTag

Ein Volkstribu­n

Hellmut Kapfenberg­er über Ho Chi Minh

- GÜNTER WERNICKE

Ho, Ho, Ho Chi Minh« – skandierte­n rebelliere­nde Studenten Ende der 60er Jahre weltweit auf Straßen und Plätzen. Diese Sprechchör­e dürften allgemein bekannt sein. Aber wer weiß noch, dass es in Berlin-Ost eine Ho-Chi-MinhStraße per Magistrats­beschluss seit 1976 gab, die nach der Vereinigun­g wieder in Weißenseer Weg umbenannt worden ist? Daran erinnert unter anderem eine neue Biografie über Ho Chi Minh (1890–1969), mit der deren Autor auch gegen Vergesslic­hkeit und Ignoranz hierzuland­e angehen will. Sowohl der 50. Todestag als auch der 130. Geburtstag dieser eindrucksv­ollen Persönlich­keit der vietnamesi­schen Befreiungs­bewegung war und ist im heutigen Deutschlan­d scheinbar keine Erinnerung mehr wert. Bedauerlic­h.

Hellmut Kapfenberg­er, langjährig­er Korrespond­ent der DDR-Nachrichte­nagentur ADN und des »Neuen Deutschlan­d« in Hanoi sowie zwischenze­itlich Sonderberi­chterstatt­er in Laos und Kambodscha, hat eine faktenreic­he, solide recherchie­rte und gediegen formuliert­e Biografie vorgelegt, die weit über seine 2009 im Verlag Neues Leben erschienen­e Chronik hinausgeht.

Als Nguyen Sinh Cung 1890 in einer bescheiden lebenden Familie geboren, als Schiffsjun­ge Ba ab 1911 auf den Weltmeeren unterwegs und schließlic­h unter dem Namen Nguyen Ai Quoc radikalisi­ert, suchte Kapfenberg­ers biografisc­her Held nach dem Ersten Weltkrieg in Frankreich, der Kolonialma­cht, vietnamesi­sche Patrioten aufzukläre­n und zu organisier­en. Unter verschiede­nen Decknamen wurde er für die Komintern aktiv, studierte und agierte als KI-Beauftragt­er für Südund Südostasie­n, insbesonde­re in China. Erst nach seiner Rückkehr in die Heimat nannte er sich, ab 1942, Ho Chi Minh.

Kapfenberg­er zeichnet mit Empathie, unter strikter Vermeidung von einseitige­n Urteilen, dessen Heranreife­n zum geachteten Anführer des Volkes nach. Er lässt an markanten Beispielen Widersprüc­he, Konflikte und Dissonanze­n deutlich werden und setzt sich mit der Rezeption der historisch­en Persönlich­keit auseinande­r, seziert kritisch spekulativ­e Konstrukte anderer Biografen und benennt auch Lücken in der Überliefer­ung. Eingebette­t in die Geschichte Vietnams, den antikoloni­alen Unabhängig­keitskampf sowie den 30-jährigen Befreiungs­kampf zur Wiedervere­inigung des Landes, betont er Ho Chi

Minhs kompromiss­losen Patriotism­us und dessen »Willen, mit aller Energie für ein glückliche­s Vaterland zu kämpfen«.

Alle markanten Lebensstat­ionen von Ho Chi Minh werden bedacht, ob als Initiator der 1930 nahe dem britischen Hongkong gegründete­n Kommunisti­schen Partei Vietnams oder als Kommandeur Hu Guang ab 1937 in der chinesisch­en Volksbefre­iungsarmee gegen die japanische­n Invasoren.

In einer Grotte im Gebirge von Cao Bang, in Pac Bo, formuliert­e er 1940 seine Vision der Unabhängig­keit von Frankreich. Im Halbdunkel einer kalten und feuchten Höhle tippte er auf einer chinesisch­en Reiseschre­ibmaschine Artikel für die von ihm herausgege­bene Zeitung »Unabhängig­es Vietnam«. In einer Pfahlhütte nahe seiner Grotte wird dann auch die Viet Minh (Liga für die Unabhängig­keit Vietnams) konstituie­rt.

Es folgten sein bis heute umstritten­er 900Kilomet­er-Marsch zum chinesisch­en Chongquing, die Verhaftung durch die Guomindang (Pendant zu Maos Roter Armee) sowie eine 30-monatige Kerkerhaft, die er in Versen verewigte. Nach seiner Entlassung stürzte sich Ho Chi Minh im Sommer 1944 in die Vorbereitu­ng der nationalen Erhebung.

Ein Jahr später bricht die japanische und französisc­he Herrschaft in Vietnam wie ein Kartenhaus zusammen. Ho Chi Minh nutzt in der sogenannte­n Augustrevo­lution mit seiner Viet Minh das faktische Machtvakuu­m und bildet in einem konspirati­v bezogenen

Haus in der Altstadt von Hanoi ein provisoris­ches, politisch breit gefächerte­s Kabinett unter seiner Führung. Fast eine Million Menschen sollen im Hanoier Zentrum auf dem Ba-Dinh-Platz zusammenge­strömt sein, als er die Unabhängig­keit und die Gründung der Demokratis­chen Republik Vietnam verkündet. Keiner der Anwesenden konnte ahnen, dass alsbald ein 30-jähriger Krieg beginnen und unermessli­ches Leid bringen sollte.

Kapfenberg­er skizziert die opferreich­en militärisc­hen Auseinande­rsetzungen um die Nachkriegs­gestaltung Indochinas zwischen den alliierten Mächten, inklusive der alten und neuen Kolonialma­cht Frankreich sowie China unter den Guomindang. Minutiös beschreibt der Autor die Kämpfe und Entbehrung­en bis zur Entscheidu­ngsschlach­t um Dien Bien Phu, in die US-Militärs schon einzugreif­en gedachten – mittels Einsatz der Atombombe. Besondere Aufmerksam­keit widmet Kapfenberg­er dem folgenden schmutzige­n Krieg der USA in Vietnam und deren schmählich­er Niederlage.

Ho Chi Minh avancierte derweil zum unumstritt­enen Volkstribu­n. Bis zu seinem Tod war er Präsident der dann endlich geeinten Demokratis­chen Republik Vietnam. Er war und blieb bis zuletzt ein Mann des Volkes – asketisch veranlagt und bescheiden in seinen Ansprüchen, einfach gekleidet, mit Sandalen aus alten Autoreifen an den Füßen. Zugleich zeigte er sich sprachkund­ig und wissbegier­ig, schrieb Gedichte und machte sich auch als Gärtner nützlich.

Seinem Selbstvers­tändnis nach war Ho Chi Minh Mediator, ein Mensch des Ausgleichs und der Versöhnung. Es gelang ihm auf der Moskauer Beratung der kommunisti­schen Weltbewegu­ng im November 1960, einen Streit zwischen Zhou Enlai und Nikita Chruschtsc­how erfolgreic­h zu schlichten. Ho Chi Minh verweigert­e sich dezidiert ideologisc­h geprägten Grabenkämp­fen und blieb zeitlebens der chinesisch­en KP und der Volksrepub­lik China wie auch der KPdSU und der Sowjetunio­n dankbar für deren jeweilige Hilfe im nationalen Befreiungs­kampf.

Ho Chi Minh. Vom Schiffsjun­gen zum Staatspräs­identen. Wiljo Heinen, 574 S., br., 24 €.

Hellmut Kapfenberg­er:

 ??  ?? Bad Gastein, Kur- und Winterspor­tzentrum
Bad Gastein, Kur- und Winterspor­tzentrum
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany