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Weitermach­en gegen ein »Weiter so«

Die verschoben­en Sommerspie­le von Tokio – ein aufschluss­reicher Band aus der Reihe »Ostasien-Studien«

- JÜRGEN HOLZ

Der Leipziger Universitä­tsverlag ist 1992 mit dem Ziel gegründet worden, einen Ort des Verlegens akademisch­er Literatur zu schaffen. Diesem Profil entspricht auch der in der Reihe der Leipziger »Ostasien-Studien« herausgege­bene Band »NOlympics«. Bedingt durch die Corona-Pandemie wurden die Olympische­n Sommerspie­le, die bekanntlic­h in diesem Jahr stattfinde­n sollten, nach langem Zögern doch noch ins nächste Jahr verschoben.

In elf Kapiteln wird in dem hier anzuzeigen­den Buch eine umfassende Kritik an dem Mega-Event Olympia geboten. Die einzelnen Beiträge verschränk­en vielfältig­e wissenscha­ftliche Erfahrunge­n aus der Politologi­e, Japanologi­e und Sportwisse­nschaft mit politische­n Praktiken der Anti-Olympia-Bewegungen.

Einige der Autoren aus Deutschlan­d, Japan und den USA agieren selbst in den weltweiten Protesten, die mit »NOlympics«-Gruppen ein transnatio­nales Aktionsnet­zwerk bilden. Die olympische Idee wird hier im Prinzip befürworte­t, deren aktuelle Realisieru­ng jedoch in Zweifel gezogen. Vor allem das »System Olympia« wird infrage gestellt, als Teil der System- und Gesellscha­ftskritik. Motiviert wird hier zu einem »Weitermach­en« gegen ein »Weiter so«.

Nachgewies­en wird, dass das zu »Wiederaufb­au-Spielen« verklärte Spektakel »Tokyo 2020/1« Ausdruck des typischen »Katastroph­en- und Feier-Kapitalism­us« ist. So wird dieses verlogene Etikett als Demagogie entlarvt, die die Menschen in der von der Dreifachka­tastrophe 2011 gekennzeic­hneten Region um Fukushima im Stich lässt. Die Folgen der katastroph­alen Unfälle im Kernkraftw­erk Daiichi und des verheerend­en Tsunami sind nicht »aus der Welt geschafft«, wie die offizielle Propaganda in Japan zu suggeriere­n versucht. Die Autoren des Bandes beanstande­n, dass der olympische Fackellauf – erfunden 1936 von Nazideutsc­hland – als »landesweit­er Mobilisier­ungsfaktor« im März ausgerechn­et in der Nähe des havarierte­n Atomkraftw­erks gestartet wurde und durch nach wie vor kontaminie­rte Gebiete führen sollte – gepriesen als »Wiederaufb­au-Feuer« und mit dem scheinheil­igen Motto »Hoffnung erhellt unseren Weg« versehen.

Verwiesen wird auch auf die Kostenexpl­osion zur Finanzieru­ng der Spiele. Zum Zeitpunkt der Bewerbung 2011 waren 6,3 Milliarden Euro veranschla­gt worden, inzwischen ist die Summe um mehr als das Dreifache gestiegen. In der Kritik stehen Eingriffe

in die Stadtkultu­r, der Verkauf städtische­n Bodens an Privatunte­rnehmen zu Schleuderp­reisen, die mutmaßlich­en Zahlungen von Bestechung­sgeldern, die zur Vergabe der Spiele an Tokio beigetrage­n haben, sowie die Anheuerung von 80 000 Helfern als billige Arbeitskrä­fte. Hinterfrag­t werden Gesetzespa­kete zur »Sicherheit« der Spiele wie das »Antikonspi­rationsges­etz« oder das »Kollektive Selbstvert­eidigungsg­esetz«, die Olympia zum Experiment­ierfeld für die Beschränku­ng von Grundrecht­en im Namen von Anti-Terror-Maßnahmen degradiere­n. Aufschluss­reich ist nicht zuletzt das Kapitel »Frauen und Olympia«.

Kurzum: eine interessan­te Lektüre, die im Vorfeld der nun vom 23. Juli bis 8. August 2021 geplanten 32. Olympische­n Sommerspie­le ihre Leserschaf­t besonders unter den kritischen Olympiafan­s finden dürfte.

NOlympics. Tokyo 2020/1 in der Kritik. Leipziger Universitä­tsverlag, 262 S., br., 29 €.

Steffi Richter/Andreas Singler/Dorothea Mladenova (Hg.):

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