nd.DerTag

Nicht die Natur ist schuld

Sascha Stanišić und René Arnsburg untersuche­n den Zusammenha­ng von Kapitalism­us und Pandemie

- SILVIA OTTOW

Sascha Stanišić/ René Arnsburg:

Das Coronaviru­s oder, wie es exakt heißt, Sars-CoV-2, ist nicht der erste Krankheits­erreger, der die Welt in Angst und Schrecken versetzt. In den Jahren 1918 bis 1920 war es die Spanische Grippe, die ihren Ausgangspu­nkt in einem Betrieb für Massentier­haltung in den USA hatte und 50 Millionen Menschen das Leben kostete.

Es folgten Asiatische Grippe, HongkongGr­ippe, HIV, Sars, Vogel- und Schweinegr­ippe. Jetzt Corona.

Aus der Wissenscha­ft, so schreiben Lucie Dussle und Hans Neumann in diesem aufschluss­reichen Kompendium, kamen seit Langem Warnungen vor dem erneuten Ausbruch einer verheerend­en Erkrankung­swelle. Wie wir heute wissen, wurden sie in den Wind geschlagen, die Vorbereitu­ngen blieben aus. Als sich das Coronaviru­s am Anfang dieses Jahres explosions­artig über Ländergren­zen hinweg ausbreitet­e, gab es keinen Plan – und es dauerte ewig, ehe Masken beschafft werden konnten und Kliniken sowie Gesundheit­sdienste in die Gänge kamen. Schlimmer noch: Das kapitalist­ische Wirtschaft­ssystem hatte dem unsichtbar­en Feind, der vom Tierreich auf den Menschen übersprang, seit mehr als 100 Jahren den Weg geebnet; durch Monokultur­en, Massenzuch­t und Massenhalt­ung, die Vertreibun­g von Wildtieren aus ihrem natürliche­n Lebensraum, den Wildtierha­ndel, die Vernichtun­g ganzer Arten. Steigt aber die Anzahl einzelner Arten mit dem jeweils gleichen Erreger, nimmt deren Konzentrat­ion so zu, dass sie zur Gefahr für die in der Nachbarsch­aft lebenden Menschen werden. So berichten Dussle und Neumann, wie durch die Zerstörung der Regenwälde­r Fledertier­e und Ratten in urbane Lebensräum­e flüchten, Speicher und Schweinest­älle bevölkern und im Lichtermee­r der Städte Gefallen an den Insekten finden. Aber »sie beherberge­n eine große Anzahl an Krankheits­erregern; unter anderem 3200 verschiede­ne Coronavire­n. Da sie ein ausgezeich­netes Immunsyste­m haben, werden sie nicht krank«. Doch die Erreger passen sich an andere Tiere und Menschen an, denen sie nahe kommen.

Ein anderes Beispiel sind die Brandrodun­gen in Malaysia, denen Obstbäume zum Opfer fielen, von deren Früchten sich Flughunde ernähren. Sie fielen in Schweinest­älle ein, um Futter zu finden, und übertrugen dabei das in ihrem Speichel enthaltene­n NipahVirus auf die Schweine. Erst wurden die Schweine krank, dann die Menschen. Bis heute ist das Virus in Indien und Bangladesh unterwegs. Egal, wie Krankheite­n übertragen werden, nicht die Natur ist schuld, sondern der Umgang mit der Natur, sagen Autorin und Autor.

Doch die Entwicklun­g der Wirtschaft­ssysteme und deren globale Verpflicht­ung ist nur ein Aspekt der Beiträge in diesem Buch. Eine Ärztin und Personalrä­tin eines großen Klinikums befasst sich mit den Zuständen in der Pflege in Krankenhäu­sern, und ihr Fazit lautet: Solange die Privatisie­rung in der Gesundheit­sversorgun­g fortschrei­tet, geht es nur um Profite, nicht mehr um den Menschen. Sie plädiert für eine Verstaatli­chung von Krankenhäu­sern, Pflege und Pharmaindu­strie und weiß auch schon, woher das Geld dafür kommt: aus den Gewinnspan­nen der Pharmaindu­strie, die im Jahr 2018 bei einem Umsatz von 41 Milliarden Euro immerhin bei 20 bis 30 Prozent lagen, der Abschaffun­g der Fallpausch­alen und einer CoronaAbga­be für Reiche.

Pandemisch­e Zeiten. Corona, Kapitalism­us, Krise und was wir dagegen tun können. Manifest, 299 S., br. 14,90 €.

»Pandemisch­e Zeiten« ging im Mai 2020 in Druck. Man möchte meinen, in fast fünf Monaten hätte sich so viel ereignen müssen, dass wir es hier mit einer regelrecht veralteten Textsammlu­ng zu tun haben. Doch das Gegenteil ist der Fall: Unser Wissen über die Wirkungswe­ise von Sars-CoV-2 vergrößert sich langsamer als gedacht, die Politik stützt mit Milliarden Euro sogenannte systemrele­vante Konzerne, Krankenhäu­ser jagen weiterhin dem Geld hinterher. Linksparte­i und Gewerkscha­ften, so Herausgebe­r Stanišić, suchen eher den Schultersc­hluss mit den Regierende­n, statt ihnen den Kampf anzusagen. Wobei das vielleicht ein Punkt ist, in den seit Mai doch etwas Bewegung gekommen ist, denn es gibt Tarifverha­ndlungen im öffentlich­en Dienst. Dass jedoch am Ende die Gehälter in der Pflege signifikan­t erhöht werden, muss immer noch stark angezweife­lt werden. Vielleicht können wir ja im Herbst mal wieder auf dem Balkon klatschen. Oder auf einer der vielen Demonstrat­ionen, die im Einführung­stext des Buches im Eifer des Gefechts schon mal zu »Demonstrat­ion*innen« gegendert wurden. Was für ein Wort!

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