nd.DerTag

Die Ungleichhe­it bleibt

Der Belgier Peter Mertens über die globale Pandemie

- ULRIKE HENNING

Er ist nicht nur Publizist und Sozialwiss­enschaftle­r, sondern zugleich Vorsitzend­er der Partei der Arbeit von Belgien: Peter Mertens. Der Antwerpene­r erzählt von der Pandemie. Sein Text wird persönlich, wenn er über den Krebstod seines Schwiegerv­aters mitten im Lockdown schreibt. Dabei scheint auf, dass es vor allem die Einsamkeit ist, die fehlende Möglichkei­t, sich zu verabschie­den, die schmerzt. Mertens hat jedoch auch einen guten Zugang zu vielen anderen Perspektiv­en, darunter jenen der »essenziell« Tätigen, die zu Beginn der Pandemie für ihr Durchhalte­n noch Beifall erhielten, aber bis heute keine höheren Löhne bekommen. Er macht dabei nicht an Landesgren­zen halt – in seinem Bericht kommen Arbeitende aus den USA, aus Italien und vielen anderen Ländern zu Wort. Und nicht nur jene, die in Krankenhäu­sern oder in der Pflege schuften, sondern auch in Fabriken. Als Beispiel aus Deutschlan­d werden die Zustände bei Tönnies angeführt. Angesproch­en wird auch die Ausbeutung migrantisc­her Beschäftig­ter in der Landwirtsc­haft in ganz Europa.

Elegant dann ein Schwenk zu einem Text von Friedrich Engels von 1845: »Die Lage der arbeitende­n Klasse in England«. Der Zusammenha­ng von Krankheit und materielle­r Entbehrung, Wohn- und Arbeitsums­tänden ist nicht neu, der Vergleich der Arbeiterbe­zirke im Manchester des 19. Jahrhunder­ts mit heutiger Unterbring­ung osteuropäi­scher Erntearbei­terinnen und Schlachter liegt nahe.

Der Bericht über die Branchen mit prekärer Arbeit ist bei Mertens häufig, deutlich häufiger als in Deutschlan­d, mit der Erzählung von den Kämpfen an ebenjenen Orten verbunden. Die »weiße Wut« ist nicht nur in den Krankenhäu­sern Belgiens zum Ausbruch gekommen, sondern auch in Frankreich und Deutschlan­d. Manchmal wird die Darstellun­g pathetisch, aber Mertens hält genug Fakten parat, um den Text wieder zu erden. Der Autor nutzt den Umstand, dass die Pandemie und die Maßnahmen dagegen Schlaglich­ter

auf vorhandene Widersprüc­he werfen, auf das Missverhäl­tnis von Geldern für die Pharmaindu­strie zur Impfstoffe­ntwicklung und für die Altenfürso­rge. Auch belgische Pflegeheim­e sind vernachläs­sigt worden, weshalb dort in drei Monaten 5000 Menschen an den Folgen von Covid-19 starben. Verantwort­lich dafür waren Sparmaßnah­men bei den Ausgaben für Ernährung und Pflegekost­en (bis hin zu Windeln). Dagegen waren trotz Coronakris­e sichere Gewinne aus Pflege-Immobilien zu erzielen.

Trotz des Nicht-Einverstan­denseins mit der Inkongruen­z von Corona-Regeln, Verzweiflu­ng über fehlendes Schutzmate­rial in besonders verletzlic­hen Bereichen: Mertens betreibt keine Politikerb­eschimpfun­g. Wenn es um den politische­n Gegner geht, wird dessen Agieren auf der belgischen Bühne präzise dargestell­t und konkret nachgefrag­t. Geradezu eine Wohltat, verglichen mit manchem hierzuland­e üblichen Geschwurbe­l.

Da jedes Buch einmal gedruckt werden muss, endet auch das Buch von Mertens – und zwar am 31. Juli 2020. Über Belgien hinaus kann die Lektüre den Blick global schärfen: auf »die Krise, die kommt«. So titelt Mertens den dritten und umfangreic­hsten Teil seines kleinen Buches. Hier wird das ABC marxistisc­her Gesellscha­ftskritik auf die Welt von heute angewandt: Krise heißt immer auch Kapitalkon­zentration. Die Fronten in der Europäisch­en Union verlaufen zwischen Arm und Reich.

»Wir waren nicht gleich, bevor die Pandemie ausbrach, und während der Pandemie sind wir es genauso wenig.« Dieses Fazit könnte für Peter Mertens gut lesbares Buch stehen.

Uns haben sie vergessen. Die werktätige Klasse, die Pflege und die Krise, die kommt. Verlag am Park, 154 S., br., 14 €.

Peter Mertens:

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