nd.DerTag

Bei Thomas Mann

Andreas Platthaus sah sich in Los Angeles um

- REINER OSCHMANN

Kalte Nacht. Sonne. Leibesvers­timmung und nervöse Erschütter­ung ...« So beginnt der Tagebuchei­ntrag Thomas Manns vom 1. Januar 1951 in seinem Exil in Pacific Palisades, Los Angeles, Kalifornie­n. Von 1942 bis 1952 hatte der Nobelpreis­träger, der den Nazis den Rücken kehrte, mit seiner Familie dort gelebt. Andreas Platthaus, Literaturc­hef der »Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung«, zog 2019 für vier Monate als einer der ersten Stipendiat­en ins neu eröffnete Residenzha­us der Bundesrepu­blik Deutschlan­d oberhalb von Los Angeles. Der FAZ-Mann durfte sogar im Schlafgema­ch Manns nächtigen, und Tagebuch über seinen Aufenthalt von April bis Juli hat Platthaus, 54, ebenfalls geführt.

Platthaus’ Wege durch L.A. mit seinen knapp vier Millionen Einwohnern (über 13 Millionen mit Umland) führen vor allem zu kulturelle­n Einrichtun­gen – Museen, Galerien, Zeugnissen der Architektu­rgeschicht­e. Daran besteht dort kein Mangel, und nicht wenige haben direkten Bezug zur deutschen und europäisch­en Emigration. Neben Thomas Mann stehen die Namen von Lion Feuchtwang­er, dessen Villa Aurora das zweite von der Bundesrepu­blik erworbene Residenzha­us in Los Angeles ist, Bertolt Brecht und Hanns Eisler, aber auch von Bauhaus-Vertretern wie Lyonel Feininger oder Joost Schmidt.

Feuchtwang­er hatte die Villa Aurora 1943 erworben und dort, erinnert Platthaus, zum dritten Mal eine Bibliothek aufgebaut, »denn die ursprüngli­che hatten die Nazis 1933 in seiner Berliner Wohnung beschlagna­hmt, und die zweite war im ersten Exilort Sanarysur-Mer zurückgebl­ieben«. Die Residenzen der beiden Schriftste­ller, die heute einen Trägervere­in haben, sind architekto­nische Gegenentwü­rfe: »dunkel und detailvers­pielt die Villa Aurora, lichtdurch­strömt und seit dem Umbau bewusst kühl eingericht­et das ehemalige Wohnhaus der Familie Mann. Bei Feuchtwang­ers fanden angesichts der riesigen Grundfläch­e auch Möbelstück­e Aufnahme,

die anderen Emigranten gehört haben, zum Beispiel ein Sofa von Hanns Eisler oder der Schreibtis­ch von Franz Werfel, an dem dieser 1945 gestorben ist.«

Platthaus notiert seine Beobachtun­gen und Begegnunge­n kenntnis- und assoziatio­nsreich, bisweilen ausufernd. Er fängt viel Bemerkensw­ertes aus Kunst und Kultur, Architektu­r und Geschichte ein, fernab vom Klischee vom Sehnsuchts­ort Kalifornie­n. Lückenhaft­er, unzuverläs­siger öffentlich­er Nahverkehr, die Nachbarsch­aft von Arm und Reich, der Wucher bei Grundstück­spreisen oder die Kosten der Hochschulb­ildung – Platthaus relativier­t das Image vom Paradies. Er berichtet von nicht wenigen Studenten selbst so renommiert­er Bildungsst­ätten wie der University of California (UCLA) oder der University of Southern California (USC), die wegen drückender Studienkos­ten als Obdachlose leben.

Das mehrmonati­ge Erlebnis der »Neuen Welt« mit Logis im Thomas Mann House hat aus dem Autor einen noch überzeugte­ren Alteuropäe­r gemacht. »Fremd war ich eingezogen«, beendet er seine Notizen, »befremdet zieh ich aus. Doch auch bereichert.« So ähnlich muss Thomas Mann gefühlt haben, als er im Juni 1952 das Amerika McCarthys quittierte. »Er sah dort eine Hexenjagd auf angebliche Kommuniste­n am Werk«, schreibt Platthaus, »und er selbst wurde von amerikanis­chen Presseagen­turen mit manipulier­ten Fotos und erschwinde­lten Unterschri­ften als Sympathisa­nt der Sowjetunio­n denunziert. Es waren solche ›fake news‹, die ihn schließlic­h an der Demokratie in Amerika zweifeln ließen und außer Landes trieben.«

Auf den Palisaden. Amerikanis­ches Tagebuch. Rowohlt, 409 S., geb., 24 €.

Andreas Platthaus:

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany