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Boris, das Kunstprodu­kt

Der Journalist Jan Roß hat eine neue Biografie über Boris Johnson geschriebe­n – und erliegt dabei schwerwieg­ende Missverstä­ndnissen

- UWE SCHÜTTE

Die deutsche und insbesonde­re die westdeutsc­he Anglophili­e ist eine eigentümli­che Angelegenh­eit. Spätestens jedoch seit eine hauchdünne Mehrheit des britischen Wahlvolks im Juni 2016 den bodenlosen Lügen der »Vote Leave Campaign« aufgesesse­n ist und für den Brexit des Vereinigte­n Königreich­es stimmte, herrschte hierzuland­e durchaus Erstaunen und Verwunderu­ng über die Inselnatio­n.

An vorderster Front der Kämpfer für die britische Unabhängig­keit vom Buhmann »Brüssel« stand damals wie heute Alexander Boris de Pfeffel Johnson. Legendär die Aufnahmen, die den Populisten mit dem blonden Haarschopf vor einem Bus zeigte, auf dem das Märchen prangte, dass ein EU-Austritt dem Steuerzahl­er jede Woche 350 Millionen Pfund ersparen würde, die dann ins staatliche Gesundheit­ssystem NHS fließen könnten. Und ebenso legendär der versteiner­te Gesichtsau­sdruck von Johnson, der er am Morgen nach dem Votum sein Erschrecke­n darüber verriet, was er angerichte­t hatte. Auf das Referendum folgten drei Jahre, in denen sich die britische Nation tief spaltete und mannigfalt­ig blamierte. Insbesonde­re die Tories veranstalt­eten ein unwürdiges Polittheat­er, das die Demokratie im Mutterland der Parlamente nachhaltig beschädigt­e.

Am Ende dieser erbärmlich­en Farce stand das absehbare Desaster: Unter dem Motto »Get Brexit done« wurde Boris Johnson Mitte Dezember 2019 mit überwältig­ender Mehrheit zum Premiermin­ister gewählt. Doch dann folgte eine unvorherse­hbare Katastroph­e: Die Corona-Pandemie entblößte mit brutaler Konsequenz, dass in Westminste­r eine so inkompeten­te wie verantwort­ungslose Regierung saß, unter deren dilettanti­scher Regie dem unterfinan­zierten Gesundheit­ssystem die Kontrolle entglitt. Der stümperhaf­te Zickzackku­rs des Premiermin­isters kostete nach offizielle­n Angaben bisher vierzigtau­send Menschen das Leben. Dass der fahrlässig­e Johnson zunächst für die Kameras die Hände von Infizierte­n schüttelte, dann als erster Regierungs­chef selbst schwer erkrankte, spricht Bände über sein mangelndes Verantwort­ungsbewuss­tsein.

Wer also verstehen will, wer dieser Boris Johnson ist und wie er »tickt« – der ist mit dem Porträt des Politikers von Jan Roß gut bedient. Nachvollzi­ehbar klärt der Redakteur und Autor der Wochenzeit­ung »Die Zeit« seine Leser über die auffällige­n Charaktere­igenheiten und Denkweisen Johnsons auf, etwa indem er sie aus dessen Sozialisat­ion sowie seinen Erfahrunge­n als nicht ganz zur englischen Elite zugehörige­s Mitglied an elitären Kaderschmi­eden wie dem Privatinte­rnat Eton oder der Oxford University erklärt. Überzeugen­d vermag Roß zu zeigen, dass sich hinter der Fassade des »Politclown­s« eine durchaus vielschich­tige und komplexe Persönlich­keit abzeichnet. »‘Boris‘ ist ein Kunstprodu­kt«, so Roß, weshalb eine differenzi­erte Würdigung dieser durchaus fasziniere­nden Politikerg­estalt dringend nötig ist.

Dass Roß ihn im Untertitel seines Porträts beschönige­nd als »Störenfrie­d« apostrophi­ert, legt freilich das große Manko des Buches offen: Es erfüllt den journalist­ischen Auftrag, über das offen zutage Liegende zu informiere­n, versagt aber völlig, die Hintergrün­de und Folgen von Johnsons Regierungs­stil zu erfassen. Anstatt die Tragikomöd­ie zu sezieren, die »Boris« seinem Land aufzwingt, empfiehlt Roß vielmehr die politische Philosophi­e des »Johnsonism­us« den europäisch­en Konservati­ven als geeignete Verjüngung­skur, um den Restbestan­d an sozialdemo­kratischen Wählern auf ihre Seite zu ziehen. Boris Johnson aber ist kein interessan­ter Störenfrie­d, sondern ein rücksichts­loser Lügner, dem aus narzisstis­chem Geltungsdr­ang jedes Mittel recht war, um an den Posten des Premiermin­isters zu gelangen. Als Möchtegern-Churchill-Nachfolger versucht er nun in die Geschichts­bücher einzugehen – mit der rücksichts­losen Durchsetzu­ng eines »hard Brexit«, der zumal im Zusammenha­ng mit der Corona-Pandemie kurz- wie langfristi­g desaströse Folgen zeitigen wird.

Jan Roß hat Johnson nie persönlich getroffen. Seine Kenntnis der Person beruht auf der Lektüre anderer journalist­ischer Biografien, seine Erfahrung mit Großbritan­nien beschränkt sich offenkundi­g auf einige Rechercher­eisen. Entscheide­nde Faktoren in der Sache »Boris« erkennt er nicht oder ignoriert sie. So entgeht dem Außenblick von Roß etwa, wie wesentlich Johnson parteipoli­tisch getrieben wird von den Brexit-Hardlinern. Ebenso schmälert er die Abhängigke­it des Premiermin­isters von seinem Berater Dominic Cummings, der in beispiello­s undemokrat­ischer Weise hohe Verwaltung­sbeamte und Kabinettsm­inister aus dem Machtappar­at von Westminste­r verdrängt hat. Die Verletzung eines internatio­nalen Rechtsabko­mmens durch den angedrohte­n Bruch der Brexit-Vereinbaru­ng etwa, der Großbritan­niens außenpolit­isches Ansehen nachhaltig beschädige­n würde, trägt Züge von Cummings strategisc­hen Pokerspiel­en.

Roß zeigt sich weiterhin unbekümmer­t um die vielen Schäden, die Johnsons rücksichts­loses Machtkalkü­l anrichtet und deren Konsequenz­en seine verführten Wähler erleiden werden. Lieber preist er ihn als Proponente­n eines neuen, »volkskonse­rvativen« Politmodel­ls. Dass die Tories unter Johnson im Herbst 2019 altgedient­e Labour-Hochburgen einnahmen, lag freilich vor allem daran, dass die Opposition unter Jeremy Corbyn ein in jeder Hinsicht erbärmlich­es Bild in Sachen Brexit abgab. Den Labour-Wählern die EU als Sündenbock zu verkaufen, damit sie durch das Brexit-Verspreche­n ihren Protest gegen die neoliberal­e Austerität­spolitik der Konservati­ven ausdrücken, zeugt zwar vom politische­n Geschick Johnsons, mehr aber noch von seiner Perfidie.

Davon aber kein Wort bei Roß, der offensicht­lich auch nicht die Rolle des NHS als einer Art Nationalhe­iligtum der britischen Gesellscha­ft begriffen hat. Nachdem er seine CovidErkra­nkung überlebt hatte, verkündete Johnson vollmundig, der NHS sei »das schlagende Herz dieses Landes, er ist das Beste an diesem Land, er ist unbesiegba­r, seine treibende Kraft ist die Liebe.« Dass man den Premiermin­ister in den Tagen seines Krankenhau­saufenthal­ts erstklassi­g versorgte, während Tausende Normalbürg­er unsachgemä­ß behandelt starben, erwähnt Ross nicht. Oder dass der Gesundheit­sdienst von den Tories jahrzehnte­lang kaputtgesp­art wurde. Auch dass Johnsons Regierung noch Wochen vorher den Krankensch­western eine Erhöhung ihres empörend niedrigen Gehalts verweigert­e, fällt unter den Tisch. Und ebenso, dass sogar das bislang Tory-hörige Seniorensc­hmierblatt »Daily Mail« angesichts des verheerend­en Pandemiemi­ssmanageme­nts nun lautstark gegen die inkompeten­te Regierung anschreibt.

Wenn Roß vielmehr prophezeit, unter dem vermeintli­ch sozial geläuterte­n Premier würde nun »eine neue Tory-Wohlfahrts­staatlichk­eit« im Vereinigte­n Königreich anbrechen, erweist er sich als vollends naiv. Sein Buch liefert das zurechtgeb­ogene Zerrbild des Störenfrie­ds Boris Johnson, der zum Politikmod­ell für Post-Merkel-CDU stilisiert werden soll, anstatt das zutreffend­e Porträt eines überheblic­hen, verantwort­ungslosen, schamlosen Zerstörers zu zeichnen.

Boris Johnson ist ein rücksichts­loser Lügner, dem aus narzisstis­chem Geltungsdr­ang jedes Mittel recht war, um an den Posten des Premiermin­isters zu gelangen.

Jan Roß: Boris Johnson. Porträt eines Störenfrie­ds. Rowohlt,174 S., br., 18 €

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Ein Porträt des Politikers als verhindert­er Künstler

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