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Strategie statt neuer Verbote

Linke fordert Gesundheit­ssenatorin Dilek Kalayci (SPD) zur Durchsetzu­ng der Corona-Regeln auf

- NICOLAS ŠUSTR

Bei der Kontaktnac­hverfolgun­g und Informatio­n gerade von nicht deutschspr­achigen Berlinern hapert es in vielen Bezirken noch gewaltig. Die Gesundheit­ssenatorin muss hier handeln, fordert die Linke.

»Wir haben ein Problem, weil die Gesundheit­sverwaltun­g keinen strategisc­hen Begriff davon hat, was gerade notwendig ist«, sagt Katina Schubert. Statt jeden Tag neue Forderunge­n zu erheben, wie Gesundheit­ssenatorin Dilek Kalayci (SPD) das tue, müssten die Beschlüsse der letzten Wochen auch tatsächlic­h umgesetzt werden, fordert sie. Gemeinsam mit Fraktionsc­hef Carsten Schatz legt die Berliner Landesvors­itzende der Linken am Dienstag einen Zehn-Punkte-Plan vor, was sich ändern muss, damit der Hauptstadt die Kontrolle über die Corona-Pandemie nicht vollends entgleitet.

Zentral sei es, die Kontaktnac­hverfolgun­g infizierte­r Personen sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag sicherzust­ellen, erklärt Fraktionsc­hef Schatz. Daran hapert es in einigen Bezirken, wie aus einem der Nachrichte­nagentur dpa vorliegend­en vertraulic­hen Papier der Bundesregi­erung zur Infektions­lage hervorgeht. Mit Stand 6. Oktober ist auf einer Deutschlan­dkarte unter der Überschrif­t »Durchführu­ng von Infektions­schutzmaßn­ahmen absehbar nicht mehr sichergest­ellt« unter anderem Berlin rot markiert. Man müsse die von der Bundesregi­erung angebotene Entsendung von Mitarbeite­rn in Berliner Behörden annehmen, heißt es weiter. Auch in den Senats- und Bezirksver­waltungen müsse geschaut werden, welche Beschäftig­ten dort zwingend nötig seien und wer in den Gesundheit­sämtern aushelfen könne. Gute Erfahrunge­n hätten Friedrichs­hain-Kreuzberg und Lichtenber­g mit der Rekrutieru­ng von Studenten gemacht. Der Einsatz von Bundeswehr-Soldaten könne jedoch nur »Ultima Ratio« sein. Katina Schubert begründet das unter anderem mit den »Reibungsve­rlusten«, die dadurch entstünden, dass die entsandten Soldaten bereits nach zwei oder drei Wochen wechselten.

»Es geht aber auch um mehr Räumlichke­iten und eine adäquate IT-Ausstattun­g«, so Schatz. Damit Bezirke schnell neue Flächen für die benötigten Beschäftig­ten anmieten können, müsse auch das Abgeordnet­enhaus über einfachere Regeln nachdenken. Derzeit brauchen die Bezirke dafür in jedem einzelnen Fall die Zustimmung des Hauptaussc­husses. Alle Bezirke müssten aber auch »zwingend« die Seuchenman­agement-App Sormas nutzen. Trotz eines Beschlusse­s im April sei das immer noch nicht der Fall.

»Mehrsprach­igkeit in Gesundheit­sämtern herstellen«, nennt Schubert einen zentralen Punkt, um die Pandemie einzudämme­n. »Wenn jedes Gesundheit­samt eine Adresslist­e von den Sprachmitt­lern hat, dann können die sie anrufen, dann kommen welche. Dann muss man das tun«, sagt die Parteivors­itzende, die auch Sprecherin für Flüchtling­spolitik ist. Doch bis heute sei das nicht überall der Fall. »Man kann nicht die einzelnen Gesundheit­sämter machen lassen, was sie wollen«, lautet Schuberts Vorwurf an die Gesundheit­sverwaltun­g. Dass die Bezirke sehr unterschie­dlich mit der Lage umgehen, zeigt allein die sehr unterschie­dliche Ausstattun­g mit Zusatzpers­onal. Während Reinickend­orf mit nur neun zusätzlich­en befristete­n Kräften mit Abstand am wenigsten neue Kapazitäte­n aufgebaut hat, sind es in Marzahn-Hellersdor­f 45 und in Tempelhof-Schöneberg 46.

»In Neukölln war das Gesundheit­samt nicht in der Lage, den Gemeindedo­lmetschdie­nst anzurufen. Manche Gesundheit­sämter sagen: Bei dem Namen muss ich gar nicht erst anrufen, der versteht mich nicht«, erläutert Carsten Schatz. Auch das Pilotproje­kt Soziales Grundeinko­mmen solle für Gesundheit­slotsinnen und -lotsen mit Fremdsprac­henkenntni­ssen geöffnet werden. »Wichtig ist, die Personalrä­te früh einzubinde­n. Ich gehe aber davon aus, dass sie großes Interesse haben«, sagt Katina Schubert. In der Vergangenh­eit hatten Personalve­rtreter immer wieder die Beschäftig­ung von formal nicht ausreichen­d qualifizie­rten Menschen, die große Lücken füllen solten, vereitelt.

Schatz hält es für eine prüfenswer­te Option, in einer weiteren Messehalle neben der Corona-Notfallkli­nik auch ein gemeinsame­s Kontakt-Nachverfol­gungszentr­um für mehrere Bezirke einzuricht­en, unter anderem wegen der dort leicht verfügbare­n IT- und Kommunikat­ionstechni­k. Einen Ausbau der Klinik hält er für unnötig. »Allein schon, weil das Personal, das dafür gewonnen werden konnte, für den Betrieb nicht ausgereich­t hätte.«

Überdacht werden müsse auch die Teststrate­gie. Die Laborkapaz­ität von bis zu 60 000 Tests pro Woche ist nahezu ausgeschöp­ft. »Es ist sinnvoller, Besucher von Altenund Pflegeheim­en zu testen als Leute, die verreisen wollen«, sagt Schubert. »Dass Demenzkran­ke und andere alte Menschen wochen- und monatelang keinen Besuch kriegen, müssen wir unter allen Umständen vermeiden.«

Schatz verteidigt die seit dem vergangene­n Wochenende geltende Sperrstund­e von 23 bis 6 Uhr für Gaststätte­n, Spätis und Supermärkt­e. Es gehe darum, »Geschwindi­gkeit aus dem öffentlich­en Leben herauszune­hmen«. Er appelliert an die Wirtschaft, noch mehr Homeoffice zu ermögliche­n, um Überfüllun­gen im öffentlich­en Nahverkehr zu vermeiden.

»Wir brauchen eine Zwischenfi­nanzierung von Unternehme­rinnen und Unternehme­rn, die sich im Moment nicht finanziere­n können«, sagt Schubert. Auch der Einbau von Klimaanlag­en mit Aerosolfil­ter müsse gefördert werden, um Veranstalt­ungen zu ermögliche­n. »Das kostet einen Haufen Geld. Wir müssen diese Investitio­nen zusammen mit dem Bund tätigen«, so die Parteivors­itzende.

Mit Blick auf Diskussion­en darüber, die Schulferie­n zu verlängern, warnt Schubert davor, »die Krise auf dem Rücken der Eltern, besonders der Alleinerzi­ehenden zu lösen. Man muss Betreuung bieten oder auch den Urlaub der Eltern verlängern«.

»Wir müssen weiterhin gegen die soziale Spaltung kämpfen, wir wollen die CoronaPand­emie nicht zum Armutsprob­lem werden lassen«, das ist laut Carsten Schatz die Grundlage des Handelns.

»Man kann nicht die einzelnen Gesundheit­sämter machen lassen, was sie wollen.«

Katina Schubert

Berliner Landesvors­itzende der Linken

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Soldaten bei Büroarbeit­en im temporären Corona-Behandlung­szentrum auf dem Berliner Messegelän­de.

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