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Deutscher Buchpreis für Anne Weber

Anne Weber hat mit »Annette, ein Heldinnene­pos« den Deutschen Buchpreis gewonnen

- nd/epd

Frankfurt am Main. Anne Weber hat am Montagaben­d in Frankfurt am Main den Deutschen Buchpreis erhalten. In ihrem Buch »Annette, ein Heldinnene­pos« erzählt die in Paris lebende 55-jährige Autorin und Übersetzer­in die Lebensgesc­hichte der französisc­hen Widerstand­skämpferin Anne Beaumanoir in Form eines Epos. Beaumanoir wurde 1923 in der Bretagne geboren, war schon als Jugendlich­e Mitglied der Kommunisti­schen Partei, kämpfte in der Résistance und wurde zur Retterin zweier jüdischer Jugendlich­er.

Wegen ihres Engagement­s für die algerische Unabhängig­keitsbeweg­ung verließ sie sowohl die KP als auch Frankreich und lebte in Tunesien, Algerien und in der Schweiz, wo sie als Ärztin arbeitete. Bis heute engagiert sich die 96-Jährige gegen Nationalis­mus, Rassismus und religiösen Fanatismus. Karin Schmidt-Friderichs, die Vorsteheri­n des Börsenvere­ins des Deutschen Buchhandel­s, würdigte »Annette, ein Heldinnene­pos« als einen Roman über »Mut, Widerstand­skraft und den Kampf um Freiheit«.

»Annette, ein Heldinnene­pos« erzählt von einer französisc­hen Antifaschi­stin

Ein grandioses Thema, ein smartes Buch. Ein Leben für die Linken, voller Enttäuschu­ng über die Linken und trotzdem keinerlei Religiöswe­rden oder Rechtswerd­en, sondern eher: weitermach­en, aber reflektier­t. Anne Beaumanoir ist heute 96 Jahre alt. Sie kämpfte gegen die Deutschen in der Résistance und sie kämpfte gegen die Franzosen in Algerien. Sie verließ ihre Kinder und floh aus Frankreich für die Revolution in Algerien. Dafür verließ sie auch die Kommunisti­sche Partei. Nach dem Sieg der Revolution floh sie aus Algerien, weil die einen Revolution­äre die anderen verhaftete­n, in die Schweiz, wo sie als Ärztin in einem Krankenhau­s arbeitet. Sie hätte auch nach Kuba gehen können, »aber danke nein, ›ein kleines Eckchen Illusion‹ (Zitat Annette) darf man sich wohl erhalten wollen«, schreibt Anne Weber. Sie hat Anne Beaumanoir ein literarisc­hes Denkmal geschaffen: »Annette, ein Heldinnene­pos«. Damit hat sie am Montag den diesjährig­en Deutschen Buchpreis gewonnen.

Nicht nur der Inhalt, auch die Form ist bemerkensw­ert: Es ist ein Epos in Versform. So etwas wird schon lange nicht mehr hergestell­t. Und dann auch noch über eine Frau, so etwas gibt es schon gar nicht. Die klassische­n Helden dieser Dichtform heißen Herakles und Odysseus. Und wenn man es etwas moderner möchte Leopold Bloom. Aber Annette? »Wieviele sterben jung, ohne dass sie hätten sterben wollen? Annette wird alt, uralt, mit diesem oder gar durch diesen Drang, für andere zu leben oder ihr Leben auch zu lassen«, schreibt Weber über diese, ihre Heldin, die in ihrem Buch vielleicht mythisch wirkt, aber völlig diesseitig agiert. Ganz zum Schluss ihres Buchs macht Weber den Vorschlag, in Camus‘ »Der Mythos des Sisyphos« den Namen von Sisyphos durch den von Annette zu ersetzen, wenn es heißt: »Der Kampf, das andauernde Plagen und Bemühen hin zu großen Höhen, reicht aus, ein Menschenhe­rz zu füllen. Weshalb wir uns Sisyphos am besten glücklich vorstellen.«

Das »Heldinnene­pos« von Weber muss man sich nicht als klassische Dichtung vorstellen. Es gibt keine Reime und die Hexameter sind auch nicht an der Macht. Es geht hier eher zu wie in den Gedichten von Charles Bukowski, die die klassische lyrische Form in Richtung Prosa verlassen haben. Man liest das gern, es ist warmherzig und ironisch zugleich. Und doch ist es Kunst und keine Biografie. »Die Kraft von Anne Webers Erzählung kann sich mit der Kraft ihrer Heldin messen«, sagte Karin Schmidt-Friderichs, die Vorsteheri­n des Börsenvere­ins des Deutschen Buchhandel­s, der den Buchpreis in Frankfurt am Main verleiht. Und zwar traditione­ll kurz vor Beginn der Buchmesse, die dieses Jahr eine Messe ohne Messe ist, da es keine Aussteller gibt, aber sehr viele Veranstalt­ungen, die online übertragen werden.

Die in Paris lebende Schriftste­llerin und Übersetzer­in Anne Weber hat die Bretonin Anne Beaumanoir auf einer Veranstalt­ung in einem Kino kennengele­rnt, als Malte Ludins Dokumentar­film über seinen Nazivater »2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß« (2005) gezeigt wird. Nach der Vorführung meldet sich Beaumanoir, die im Krieg zwei jüdische Kinder versteckt hatte, zu Wort. Später begegnen sie sich beim Buffet. Weber habe, schreibt sie in »Annette«, Beaumanoir angeschaut und gedacht: »Dich gibts? Dich gibts wirklich?« Sie haben sich dann oft getroffen und unterhalte­n. Ihr Buch sollte keine Biografie werden, sagte sie in ihrer Dankesrede in Frankfurt, doch habe sie versucht, so wenig wie möglich dazu zu erfinden. Zwar habe Beaumanoir dem Buch zugestimmt, aber gesagt: »Das bin ja gar nicht ich!«

Weber glaubt, Beaumanoir­s Geschichte »einen Rhythmus gegeben zu haben«. Das ist ihr in der Tat gelungen. Es ist spannend und berührend zu lesen. Es geht um sozialisti­sche, humanistis­che Ideen, um die Befreiung des Menschen als großer, unzerstörb­arer Hoffnung gegen Faschismus, Stalinismu­s und Kapitalism­us. Fortwähren­d geht es aber auch um Folter und Vernichtun­g. Die Deutschen foltern Antifaschi­sten, die vom Faschismus befreiten Franzosen foltern antikoloni­ale Algerier und als die ihr Land von Frankreich befreit haben, foltern sie politische Gegner.

Für die Heldin liegen Glück und lebensbedr­ohliche Gefahr sehr nah beieinande­r: »Annette pflückt Aprikosen. Alles kann gut gehen/ oder nicht. Tod. Folter. Aprikosen.

Dazwischen:/ nichts. Ein Hauch weniger Wachsamkei­t und Glück«. Annette pflückt Aprikosen in der Provence, wo hin sie die Résistance geschickt hat, »während vier andere in Montluc eingekerke­rt sind, während die/ Alliierten in die Normandie einfallen und in / Oradour-sur-Glane-Einheiten der SS-Panzerdivi­sion/ ›Das Reich‹ 642 Einwohner ermorden«. Die Bedrohung ist immer da, sie wartet um die Ecke. Das wird in diesem Epos abermals verdeutlic­ht. Schon kurz nach der Befreiung verfolgen sich Franzosen gegenseiti­g: Wer war Verräter? Und wen stellt man als Verräter hin, um an seinen Besitz zu kommen?

Allerdings werden diese großen Themen ohne große politische oder historisch­e Erklärunge­n auf das heldenhaft­e Individuum Annette herunterge­brochen, das von den Kollektive­n entweder enttäuscht oder gar bedroht wird und somit einsam durch die barbarisch­en Zeiten schreitet. Und wenn es die überlebt, dann könnte es vielleicht sogar sein, dass es doch einen Gott gibt, auch wenn sie niemals an einen solchen glauben will, oder? »Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie. Falls es ihn gibt, so hat er sie gemacht«, schreibt Weber ganz am Anfang. Diese theologisc­he Suggestion erlaubt sich Weber fast schon scherzhaft, denn erstens ist dies ein Epos, und zweitens wirkten die Kommuniste­n sehr oft so, als hätten sie einen religiösen Knall.

Annette ist eine linke Heldin, keine Frage. Die Frage ist nur: Wo ist die Linke geblieben? Das ist dann doch eine eher harmlose Pointe.

Ihr Buch sollte keine Biografie werden, sagte Weber, doch sie habe versucht, so wenig wie möglich dazu zu erfinden. Zwar habe Beaumanoir dem Buch zugestimmt, aber gesagt: »Das bin ja gar nicht ich!«

Anne Weber: Annette, ein Heldinnene­pos. Matthes & Seitz, 208 S., geb. 22 €

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»Dich gibts? Dich gibts wirklich?« Anne Beaumanoir (vorn) und Anne Weber, die über sie ein Epos geschriebe­n hat.

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