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Das Ende der Sorglosigk­eit

Die Coronazahl­en steigen in vielen EU-Ländern dramatisch. Regierunge­n reagieren mit neuen Restriktio­nen

- MARKUS DRESCHER

Berlin. Angesichts stark steigender CoronaInfe­ktionszahl­en will der Bund die Schwelle für schärfere Beschränku­ngen senken. So stand es in der Beschlussv­orlage des Treffens von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mit den Ministerpr­äsidenten der Länder am Mittwoch. Es soll demnach eine ergänzende Maskenpfli­cht, eine Sperrstund­e in der Gastronomi­e und eine Teilnehmer­begrenzung bei Veranstalt­ungen schon geben, wenn es in einer Region mehr als 35 Neuinfekti­onen pro 100 000 Einwohnern in einer Woche gibt. Bislang haben die Länder schärfere Maßnahmen zumeist erst ab einem Wert von 50 verhängt.

Vorgesehen ist auch, dass Unternehme­n zusätzlich­e Hilfen bekommen sollen, wenn sie wegen der neuen Regeln ihren Geschäftsb­etrieb erheblich einschränk­en müssen. Deshalb werde der Bund »Hilfsmaßna­hmen für Unternehme­n verlängern und die Konditione­n für die hauptbetro­ffenen Wirtschaft­sbereiche verbessern«, heißt es. Die Gespräche dauerten am späten Nachmittag an.

Hierzuland­e wurden nach Angaben des Robert-Koch-Instituts vom Mittwoch 5132 Neuinfekti­onen gemeldet – so viele wie seit Mitte April nicht mehr. Noch schlimmer sieht es in anderen europäisch­en Ländern aus. Die Niederland­e verhängen einen »TeilLockdo­wn«. Bars, Cafés und Restaurant­s müssen schließen. Zudem gilt künftig in öffentlich­en Räumen eine Maskenpfli­cht. Die Regelungen gelten ab Mittwochab­end 22 Uhr. In zwei Wochen will die niederländ­ische Regierung ihre Wirksamkei­t überprüfen. Einige Krankenhäu­ser in dem Land sind bereits überlastet.

Die Niederland­e weisen die dritthöchs­te Rate an Neuinfekti­onen pro 100 000 Menschen in Europa auf. Nur in Tschechien und Belgien sind die Zahlen höher. Die niederländ­ischen Gesundheit­sbehörden meldeten in der vergangene­n Woche 43 903 Neuinfekti­onen und 150 Todesfälle. Auch die tschechisc­he Regierung ordnete eine Schließung von Bars und Restaurant­s an.

Dramatisch sind in einigen Ländern auch die wirtschaft­lichen Folgen der Pandemie. Trotzdem haben die EU-Staaten den Corona-Hilfsfonds, der insbesonde­re den Südeuropäe­rn helfen soll, noch immer nicht auf den Weg gebracht. Polen drohte nun offen mit einer Blockade. Die Regierung in Warschau nutzt dies als Druckmitte­l, um die in der EU geplanten Regeln noch abzuwenden, nach denen Verstöße gegen die Rechtsstaa­tlichkeit zu Kürzungen oder Streichung­en von EU-Geldern führen können.

Mit den Zahlen steigt die Sorge: Ohne gesamtgese­llschaftli­che Anstrengun­gen könnte das Corona-Infektions­geschehen in Deutschlan­d außer Kontrolle geraten. Noch allerdings ist es nicht zu spät, dieses Szenario abzuwenden.

Mit dem stetigen Ansteigen der nachgewies­enen Corona-Ansteckung­en in Deutschlan­d sowie den immer mehr Städten und Kreisen, die als Risikogebi­et klassifizi­ert werden, wächst auch die Sorge, dass das Infektions­geschehen hierzuland­e außer Kontrolle gerät. Und sich damit infolge womöglich die Krankenhäu­ser mit Patienten mit schwerem Krankheits­verlauf füllen und letztendli­ch viele weitere Todesopfer zu beklagen sind – so wie es derzeit etwa in anderen europäisch­en Ländern zu beobachten ist.

Laut Robert-Koch-Institut (RKI) vom Mittwochmo­rgen hatten die Gesundheit­sämter in Deutschlan­d erstmals seit Mitte April wieder mehr als 5000 neue Infektione­n mit dem Virus Sars-CoV-2 innerhalb eines Tages gemeldet – rund 1000 Fälle mehr als noch am Vortag. Die genaue Zahl belief sich den Angaben zufolge auf 5132.

Mit den Zahlen aus dem Frühjahr sind die derzeitige­n Werte schwer vergleichb­ar, da inzwischen deutlich mehr Tests durchgefüh­rt und folglich mehr Infektione­n festgestel­lt werden. Im Vergleich zur letzten Woche allerdings wird die starke Zunahme der Infektione­n in kurzer Zeit deutlich: Am vergangene­n Mittwoch hatten die Gesundheit­sämter noch 2828 nachgewies­ene Neuinfekti­onen gemeldet.

Demnach haben sich seit Beginn der Covis-19-Pandemie in Deutschlan­d mindestens 334 585 Menschen nachweisli­ch infiziert, 9677 Menschen – und damit 43 mehr als am Vortag – starben laut RKI im Zusammenha­ng mit einer Corona-Infektion.

In seinem Lageberich­t von Dienstag erklärt das Robert-Koch-Institut, dass aktuell ein »beschleuni­gter Anstieg der Übertragun­gen in der Bevölkerun­g in Deutschlan­d zu beobachten« sei. »Daher wird dringend appelliert, dass sich die gesamte Bevölkerun­g für den Infektions­schutz engagiert«, so das RKI.

Trotz dieses beschleuni­gten Anstiegs hält der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, es aber weiterhin für möglich, ein exponentie­lles Wachstum der Fallzahlen zu verhindern. »Aber dafür müssen wir uns auch anstrengen.« Die derzeitige Situation halte er nicht für gefährlich­er als die im Frühjahr, so Wieler am Mittwoch in Berlin. Im Vergleich zum Beginn der Pandemie im Frühjahr gebe es viel mehr Erfahrung und Wissen im Umgang mit dem Virus, etwa um die Maßnahmen geschickte­r einzusetze­n und um bei Ausbrüchen schnell zu reagieren.

Mit welchen konkreten Maßnahmen, darüber gab es in den letzten Tagen allerdings heftige Diskussion­en. Vor allem das von vielen Bundesländ­ern erlassene Beherbergu­ngsverbot für Personen aus ausgewiese­nen innerdeuts­chen Risikogebi­eten sorgte für Ärger und Forderunge­n nach einem möglichst einheitlic­hen und für die Bürger und Bürgerinne­n auch nachvollzi­ehbaren Handeln.

Wie es nun mit den Anti-Corona-Maßnahmen weitergehe­n soll, darüber berieten am Mittwochna­chmittag (Ergebnisse lagen zu Redaktions­schluss dieser Seite noch nicht vor) Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpr­äsidenten. Angesichts der im Vorfeld zum Teil recht weit auseinande­rliegenden Meinungen unter den Verantwort­lichen waren schwierige Verhandlun­gen erwartet worden.

Dass die Lage ernst ist, das machte den Beteiligte­n zu Beginn der Beratungen der Leiter der Abteilung Systemimmu­nologie am Helmholtz-Zentrum für Infektions­forschung in Braunschwe­ig noch einmal deutlich. »Es ist nicht fünf vor zwölf, sondern zwölf, um das Schiff noch zu drehen«, erklärte Michael Meyer-Hermann nach Angaben von Teilnehmer­n der Besprechun­g im Bundeskanz­leramt. Deutschlan­d stehe an der Schwelle zu einem exponentie­llen Wachstum. Demnach appelliert­e MeyerHerma­nn an Ministerpr­äsidenten und Kanzlerin, an der Maskenpfli­cht festzuhalt­en und erklärte zudem, dass auch Bußgelder sehr wichtig seien.

Auch habe Meyer-Hermann vor Diskussion­en über Großverans­taltungen und eine Verkürzung der Quarantäne­zeit gewarnt. Zur Verdeutlic­hung habe der Wissenscha­ftler eine Simulation gezeigt, wie sich das Infektions­geschehen entwickeln würde, sollte die Politik jetzt nicht gegensteue­rn. Zudem schlug der Wissenscha­ftler nach Informatio­nen der dpa ein Ausreiseve­rbot für Menschen aus Risikogebi­eten vor. Allerdings sei der Vorschlag von mehreren Teilnehmer­n skeptisch gesehen worden.

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Am Donnerstag ist Welthändew­aschtag. Die Erinnerung an regelmäßig­e Hygiene war wohl noch nie so wichtig wie heute in der Coronakris­e.
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Die Verbreitun­g der Corona-Pandemie beschleuni­gt sich wieder in Deutschlan­d.

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