Das Ende der Sorglosigkeit
Die Coronazahlen steigen in vielen EU-Ländern dramatisch. Regierungen reagieren mit neuen Restriktionen
Berlin. Angesichts stark steigender CoronaInfektionszahlen will der Bund die Schwelle für schärfere Beschränkungen senken. So stand es in der Beschlussvorlage des Treffens von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mit den Ministerpräsidenten der Länder am Mittwoch. Es soll demnach eine ergänzende Maskenpflicht, eine Sperrstunde in der Gastronomie und eine Teilnehmerbegrenzung bei Veranstaltungen schon geben, wenn es in einer Region mehr als 35 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohnern in einer Woche gibt. Bislang haben die Länder schärfere Maßnahmen zumeist erst ab einem Wert von 50 verhängt.
Vorgesehen ist auch, dass Unternehmen zusätzliche Hilfen bekommen sollen, wenn sie wegen der neuen Regeln ihren Geschäftsbetrieb erheblich einschränken müssen. Deshalb werde der Bund »Hilfsmaßnahmen für Unternehmen verlängern und die Konditionen für die hauptbetroffenen Wirtschaftsbereiche verbessern«, heißt es. Die Gespräche dauerten am späten Nachmittag an.
Hierzulande wurden nach Angaben des Robert-Koch-Instituts vom Mittwoch 5132 Neuinfektionen gemeldet – so viele wie seit Mitte April nicht mehr. Noch schlimmer sieht es in anderen europäischen Ländern aus. Die Niederlande verhängen einen »TeilLockdown«. Bars, Cafés und Restaurants müssen schließen. Zudem gilt künftig in öffentlichen Räumen eine Maskenpflicht. Die Regelungen gelten ab Mittwochabend 22 Uhr. In zwei Wochen will die niederländische Regierung ihre Wirksamkeit überprüfen. Einige Krankenhäuser in dem Land sind bereits überlastet.
Die Niederlande weisen die dritthöchste Rate an Neuinfektionen pro 100 000 Menschen in Europa auf. Nur in Tschechien und Belgien sind die Zahlen höher. Die niederländischen Gesundheitsbehörden meldeten in der vergangenen Woche 43 903 Neuinfektionen und 150 Todesfälle. Auch die tschechische Regierung ordnete eine Schließung von Bars und Restaurants an.
Dramatisch sind in einigen Ländern auch die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie. Trotzdem haben die EU-Staaten den Corona-Hilfsfonds, der insbesondere den Südeuropäern helfen soll, noch immer nicht auf den Weg gebracht. Polen drohte nun offen mit einer Blockade. Die Regierung in Warschau nutzt dies als Druckmittel, um die in der EU geplanten Regeln noch abzuwenden, nach denen Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit zu Kürzungen oder Streichungen von EU-Geldern führen können.
Mit den Zahlen steigt die Sorge: Ohne gesamtgesellschaftliche Anstrengungen könnte das Corona-Infektionsgeschehen in Deutschland außer Kontrolle geraten. Noch allerdings ist es nicht zu spät, dieses Szenario abzuwenden.
Mit dem stetigen Ansteigen der nachgewiesenen Corona-Ansteckungen in Deutschland sowie den immer mehr Städten und Kreisen, die als Risikogebiet klassifiziert werden, wächst auch die Sorge, dass das Infektionsgeschehen hierzulande außer Kontrolle gerät. Und sich damit infolge womöglich die Krankenhäuser mit Patienten mit schwerem Krankheitsverlauf füllen und letztendlich viele weitere Todesopfer zu beklagen sind – so wie es derzeit etwa in anderen europäischen Ländern zu beobachten ist.
Laut Robert-Koch-Institut (RKI) vom Mittwochmorgen hatten die Gesundheitsämter in Deutschland erstmals seit Mitte April wieder mehr als 5000 neue Infektionen mit dem Virus Sars-CoV-2 innerhalb eines Tages gemeldet – rund 1000 Fälle mehr als noch am Vortag. Die genaue Zahl belief sich den Angaben zufolge auf 5132.
Mit den Zahlen aus dem Frühjahr sind die derzeitigen Werte schwer vergleichbar, da inzwischen deutlich mehr Tests durchgeführt und folglich mehr Infektionen festgestellt werden. Im Vergleich zur letzten Woche allerdings wird die starke Zunahme der Infektionen in kurzer Zeit deutlich: Am vergangenen Mittwoch hatten die Gesundheitsämter noch 2828 nachgewiesene Neuinfektionen gemeldet.
Demnach haben sich seit Beginn der Covis-19-Pandemie in Deutschland mindestens 334 585 Menschen nachweislich infiziert, 9677 Menschen – und damit 43 mehr als am Vortag – starben laut RKI im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion.
In seinem Lagebericht von Dienstag erklärt das Robert-Koch-Institut, dass aktuell ein »beschleunigter Anstieg der Übertragungen in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten« sei. »Daher wird dringend appelliert, dass sich die gesamte Bevölkerung für den Infektionsschutz engagiert«, so das RKI.
Trotz dieses beschleunigten Anstiegs hält der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, es aber weiterhin für möglich, ein exponentielles Wachstum der Fallzahlen zu verhindern. »Aber dafür müssen wir uns auch anstrengen.« Die derzeitige Situation halte er nicht für gefährlicher als die im Frühjahr, so Wieler am Mittwoch in Berlin. Im Vergleich zum Beginn der Pandemie im Frühjahr gebe es viel mehr Erfahrung und Wissen im Umgang mit dem Virus, etwa um die Maßnahmen geschickter einzusetzen und um bei Ausbrüchen schnell zu reagieren.
Mit welchen konkreten Maßnahmen, darüber gab es in den letzten Tagen allerdings heftige Diskussionen. Vor allem das von vielen Bundesländern erlassene Beherbergungsverbot für Personen aus ausgewiesenen innerdeutschen Risikogebieten sorgte für Ärger und Forderungen nach einem möglichst einheitlichen und für die Bürger und Bürgerinnen auch nachvollziehbaren Handeln.
Wie es nun mit den Anti-Corona-Maßnahmen weitergehen soll, darüber berieten am Mittwochnachmittag (Ergebnisse lagen zu Redaktionsschluss dieser Seite noch nicht vor) Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten. Angesichts der im Vorfeld zum Teil recht weit auseinanderliegenden Meinungen unter den Verantwortlichen waren schwierige Verhandlungen erwartet worden.
Dass die Lage ernst ist, das machte den Beteiligten zu Beginn der Beratungen der Leiter der Abteilung Systemimmunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig noch einmal deutlich. »Es ist nicht fünf vor zwölf, sondern zwölf, um das Schiff noch zu drehen«, erklärte Michael Meyer-Hermann nach Angaben von Teilnehmern der Besprechung im Bundeskanzleramt. Deutschland stehe an der Schwelle zu einem exponentiellen Wachstum. Demnach appellierte MeyerHermann an Ministerpräsidenten und Kanzlerin, an der Maskenpflicht festzuhalten und erklärte zudem, dass auch Bußgelder sehr wichtig seien.
Auch habe Meyer-Hermann vor Diskussionen über Großveranstaltungen und eine Verkürzung der Quarantänezeit gewarnt. Zur Verdeutlichung habe der Wissenschaftler eine Simulation gezeigt, wie sich das Infektionsgeschehen entwickeln würde, sollte die Politik jetzt nicht gegensteuern. Zudem schlug der Wissenschaftler nach Informationen der dpa ein Ausreiseverbot für Menschen aus Risikogebieten vor. Allerdings sei der Vorschlag von mehreren Teilnehmern skeptisch gesehen worden.