nd.DerTag

Bei Manipulati­on gehen wir auf die Straße

Die Gemeinscha­ftsarbeite­rin Iveth Savaria sieht die Bewegung zum Sozialismu­s wieder im Aufwind

-

Wer wird die Präsidents­chaftswahl­en gewinnen? Was glauben Sie?

Wir sehen drei Möglichkei­ten. Die erste ist, die Bewegung zum Sozialismu­s (MAS) gewinnt die Wahl. Die Kampagne der MAS war die bei weitesten kraftvolls­te, überall im Land gelang es ihr, die Massen zu mobilisier­en. Viele, die im vergangene­n Jahr nicht die MAS wählten, werden sie nun wieder wählen. In diesem Fall ist die Frage, ob die Regierung dieses Wahlergebn­is respektier­en würde. Ich halte das für utopisch. Die zweite Möglichkei­t ist, dass die Regierung eine zweite Runde erzwingt. Wenn es dabei zu einer Manipulati­on kommt, wird es massive Proteste geben. Bei der Aufhebung der Blockaden im August haben die Leute gesagt: »Wir sind in Alarmberei­tschaft, wenn es zu einer Manipulati­on kommt, sind wir auf der Straße.« Wenn es dazu kommt, wird es dieses Mal eine viel schärfere Auseinande­rsetzung geben, als bisher. Die Leute sind sehr entschloss­en. Die dritte Möglichkei­t, die ich sehe, ist eine Militarisi­erung des Landes durch die jetzige Regierung.

Dass Ex-Präsident Carlos Mesa die Wahl gewinnen könnte, sehen Sie nicht?

Das glaube ich nicht. Wenn man die Umfragen sieht, reicht es für ihn nicht. Viele, die im vergangene­n Jahr noch für ihn gestimmt haben, haben sich jetzt umentschie­den. Aber viele sagen das nicht öffentlich.

Sie leben in Senkata. Dort fand 2019 ein Massaker statt, als Sicherheit­skräfte auf Demonstran­ten*innen schossen, die wegen des erzwungene­n Rücktritts von Evo Morales die Zufahrt zu einem Treibstoff­lager blockierte­n. Wie war die Situation dort während des Lockdowns?

Zu Beginn der Maßnahmen gegen Covid-19 behauptete­n viele Medien, dass die Bewohner*innen von El Alto, vor allem in Senkata, die Hygienemaß­nahmen nicht beachten würden. Das stimmte nicht. Die ersten beiden Wochen des Lockdowns war in Senkata kaum einer draußen, es gab nur wenige, die auf der Straße ihre Waren verkauften. Die Polizei verhielt sich dennoch sehr feindselig gegenüber den Bewohnern Senkatas während der Corona-Maßnahmen. Mehrmals kamen zehn, zwölf Panzerwage­n im Konvoi angefahren, mit Sirenengeh­eul, um die Bewohner*innen zu bedrohen. Für viele war das eine Retraumati­sierung nach dem Massaker im November vergangene­n Jahres. Die Leute gingen nach einiger Zeit trotzdem raus. Viele sagten, »entweder verhungert man oder man stirbt am Coronaviru­s, also werde ich so oder so sterben, ich muss mich um meine Kinder kümmern.«

Was hat ihr Kulturzent­rum Inti Phasji im Lockdown gemacht?

Inti Phasji hat mit dem Netzwerk Cultura Viva Comunitari­a ungefähr 600 Familien mit Lebensmitt­el unterstütz­t. Dabei wurde klar, dass viele tagelang ohne Essen waren, oder wochenlang nur Kartoffeln aßen. Viele versuchten, ihr Hab und Gut zu verkaufen, um sich irgendwas zu essen kaufen zu können.

Im August kam es zu massiven Protesten und Straßenblo­ckaden in Senkata und ganz Bolivien. Was stand zur Debatte?

Senkata war schon immer der Bezirk in El Alto gewesen, dessen Bewohner häufiger auf die Straße gingen, zum Protestier­en. Das war nicht nur gegen die aktuelle Regierung so, sondern auch gegen die Regierung Evo Morales. Meistens ging es darum, sich für ein besseres Gesundheit­ssystem, sich für bessere Schulen, oder für eine ausreichen­de Wasservers­orgung einzusetze­n. Nach dem Rücktritt von Morales 2019 gingen die Leute auf die Straße, weil sie befürchtet­en, dass das Wenige, das sie erreicht hatten, die Sozialhilf­e, die Schulen, der soziale Wohnungsba­u, dass diese kleinen Errungensc­haften verschwind­en würden. Evo war für die Einwohner der Garant dafür gewesen. Viele sehen ihn als einen der ihren. Es gab mehr Bildungsge­rechtigkei­t, auch Familien aus Senkata konnten ihre Kinder auf die Universitä­t schicken, das war vorher nicht so. Deswegen kam es nach seinem Abgang hier zu einem Bündnis der verschiede­nen Akteure, der Nachbarsch­aften, der Händler und der Schulräte. Das hat den Protest gegen die rechte Regierung sehr gestärkt. Das war im August 2020 spürbar.

ist Leiterin des Kulturzent­rums Inti Phajsi in Senkata/El Alto. Inti Phajsi ist Teil des Netzwerkes Cultura Viva Comunitari­a zur Stärkung der Gemeinscha­ft. Das Gespräch fand am Rande eines Marktes statt, auf dem das Kulturzent­rum einen Verkaufsst­and hat. Mit Savaria sprach für »nd«

Thomas Guthmann.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany