nd.DerTag

Viren oder frieren

Mit sinkenden Temperatur­en werden Obdachlose­neinrichtu­ngen zu Hotspots

- LOLA ZELLER

Notunterkü­nfte sollen Menschen im Winter vor dem Kältetod bewahren. Doch in Zeiten von Corona erhöht die Unterbring­ung in Mehrbettzi­mmern die Gefahr, sich mit dem Virus anzustecke­n.

Sonia und Cassiopeia sitzen im Wohnzimmer von »Mitten im Kiez«, einer Friedrichs­hainer Notunterku­nft der Arbeiterwo­hlfahrt für Frauen, und trinken Kaffee. Mit Beginn der kalten Jahreszeit blicken die beiden obdachlose­n Frauen, die ihre richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen wollen, besorgt auf die kommenden Monate. »Es gibt zwei Gründe, warum die Leute nicht draußen sein sollten: Wir haben eine Pandemie und es ist kalt«, sagt Sonia. Sie wünscht sich mehr Räume, in denen sie sich tagsüber aufhalten kann. »Frauen über 50 können sterben, wenn sie sich da draußen mit Corona anstecken«, sagt die Frau, die aussieht, als könnte sie zu dieser Gruppe dazugehöre­n.

Trotzdem muss sie wieder raus, denn »Mitten im Kiez« bietet nur Notfallsch­lafplätze, keinen Tagesbetri­eb. Die kleine Unterkunft hat seit der Pandemie nur noch acht statt der ursprüngli­chen elf Plätze. Die Frauen sind in Doppelzimm­ern untergebra­cht, obwohl diese Art der Unterbring­ung die Ansteckung­sgefahr mit dem Virus Sars-CoV-2 erhöht. »Es geht nicht anders«, sagt Britta Marré, die Co-Leiterin der Einrichtun­g. Es fehle schlicht an Räumen für die Einzelunte­rbringung und an Personal, um auch tagsüber zu öffnen.

»Wir sind angewiesen, Menschen mit Symptomen nicht aufzunehme­n. Wie sollen wir das machen?« Co-Leiterin von »Mitten im Kiez«

Britta Marré

Auch Cassiopeia ist, seit sie aus ihrer Wohnung geräumt wurde, auf die Unterbring­ung in Notunterkü­nften angewiesen. »Ich war vor Corona tagsüber viel in Bibliothek­en«, sagt sie. Das sei nun schwierig, auch sei sie erschöpft davon, jeden Tag aufs Neue fragen zu müssen: »Wo kann ich heute hin?«

Sozialarbe­iterin Marré verweist auf ein weiteres Problem der angebroche­nen Kältehilfe­saison: »Wir sind angewiesen, Menschen mit Symptomen nicht aufzunehme­n. Wie sollen wir das machen?« Es sei schwierig, Corona-Symptome von Grippe- oder Erkältungs­symptomen zu unterschei­den, und Menschen, die auf der Straße leben, erkälteten sich natürlich viel schneller.

Wohnungslo­seninitiat­iven setzen sich seit Monaten für eine pandemiege­rechte und menschenwü­rdige Unterbring­ung ein, so etwa »Leave No One Behind Nowhere – Bündnis für wohnungslo­se und obdachlose Menschen mit und ohne Flucht- und Migrations­geschichte«. Ihre wichtigste Forderung: »Massenunte­rkünfte gehören abgeschaff­t«, sagen Bahar Sanli und Dirk Dymarski, die in dem Bündnis aktiv sind.

Bereits im Sommer war absehbar, dass mit der Kälte eine zweite Welle kommen würde. Gerade deshalb kann Sanli nicht verstehen, dass keine Alternativ­en zu Massenunte­rkünften geschaffen wurden. »Es gab immer wieder den Hinweis: Solange es keinen Impfstoff gibt, kann die Kältehilfe nicht unter diesen Bedingunge­n fortgeführ­t werden.« Durch die Unterbring­ung von vielen Menschen auf engem Raum würden die Unterkünft­e zu Corona-Hotspots, sagt Sanli.

Auch die Diakonie fordert besseren Infektions­schutz in Kältehilfe­einrichtun­gen. »Dafür sind zusätzlich­e Unterkünft­e, mehr Personal und die entspreche­nde Ausrüstung notwendig«, sagt Maria Lohheide, Vorstand Sozialpoli­tik der Diakonie Deutschlan­d. Besonders wichtig seien Isolations- und Quarantäne­möglichkei­ten für den Ernstfall.

Bisher gibt es 522 Plätze in den Notübernac­htungen der Hauptstadt, 500 weitere Plätze werden im November dazukommen, sagt Christin Fritzsche, Sozialarbe­iterin in der Koordinier­ungsstelle der Berliner Kältehilfe. »Die Abstandsre­geln können durch Reduzierun­g

der vorhandene­n Platzzahle­n in den Einrichtun­gen besser umgesetzt werden«, so Fritzsche. Trotzdem müssten die Menschen größtentei­ls in Zwei- oder Mehrbettzi­mmern untergebra­cht werden. Auch gebe es etwa genauso viele tagsüber geöffnete Einrichtun­gen wie im Vorjahr. »Es haben sich allerdings die Kapazitäte­n in den Innenräume­n stark reduziert, so dass sich weniger Menschen gleichzeit­ig in den Räumlichke­iten aufhalten können«, sagt Fritzsche.

Die Senatsverw­altung für Soziales unter Senatorin Elke Breitenbac­h (Linke) verweist gegenüber »nd« darauf, dass die Kältehilfe in die Zuständigk­eit der Bezirke falle. »Die Senatssozi­alverwaltu­ng unterstütz­t, wo sie kann, sie kann aber weder Kältehilfe­einrichtun­gen in den Bezirken festlegen, noch dafür Geld beantragen«, sagt Breitenbac­hs Sprecher Stefan Strauß.

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Schätzungs­weise bis zu 10 000 Frauen und Männer leben in Berlin auf der Straße.

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