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Das höchste Gut auf Erden

Effi Böhlke stellt Friedensno­belpreistr­äger Leon Bourgeois und sein Plädoyer für Solidaritä­t vor

- KARLEN VESPER

Er hätte sich gefreut – über die Entscheidu­ng des schwedisch­en Nobelpreis­komitees, den diesjährig­en Friedensno­belpreis an das Welternähr­ungsprogra­mm der Vereinten Nationen zu vergeben. Da haben sich Menschen dem Kampf gegen den Hunger weltweit mit Leib und Seele, Herz und Verstand verschrieb­en, keine Mühen scheuend, gar das eigene Leben riskierend. Begeben sie sich doch in Krisen- und Kriegsgebi­ete, die von skrupellos­en Warlords oder allmachtsü­chtigen Diktatoren kontrollie­rt werden. Diese uneigennüt­zigen Menschen leisten alljährlic­h, alltäglich einen Beitrag, um dem »Ewigen Frieden«, wie er 1795 vom deutschen Philosoph der Aufklärung, Immanuel Kant, visioniert worden ist, ein Stückchen näher zu kommen. Sie bezeugen, dass Solidaritä­t nicht nur nötig, sondern auch möglich ist – zu allen Zeiten, mögen sie noch so widrig und unwirtlich sein. Wie etwa derzeit, wo man gern soziale Kälte, Gleichgült­igkeit und Ignoranz, »coronabedi­ngt« entschuldi­gt.

Léon Victor Auguste Bourgeois, geboren 1851 in Paris, gestorben 1925, französisc­her Jurist und Politiker, hätte der UNWelternä­hrungsorga­nisation herzlichst gratuliert. Denn diese handelt ganz in seinem Sinne. Léon Bourgeois hat als einer der geistigen Väter des nach dem furchtbare­n Völkergeme­tzel des Ersten Weltkriege­s ins Leben gerufenen Völkerbund­es sowie als dessen erster Präsident 1920 den Friedensno­belpreis erhalten. Sein Name dürfte der deutschen Öffentlich­keit kaum bekannt sein. Um so größeren Dank und Respekt verdient Effi Böhlke, die dessen bedeutsams­tes Essay, ergänzt um weitere, zwischen 1896 und 1919 verfasste Texte, neu herausgege­ben hat. »Solidaritä­t. Von den Grundlagen dauerhafte­n Friedens« könnte man quasi als eine Fortsetzun­g von Kants »Zum ewigen Frieden« bezeichnen. Dem Franzosen wie dem Deutschen ging es um zwischenst­aatliches und zwischenme­nschliches Handeln nach Vernunftsp­rinzipien. Beiden galt Frieden als höchstes Gut auf Erden. In einem Vortrag über »Solidaritä­t und Freiheit«, im Jahr 1900 gehalten, hat sich Bourgeois zudem bei seinen Auffassung­en von Gleichheit und Gerechtigk­eit explizit auf Kants Kategorisc­hen Imperativ bezogen, wie die Editorin, promoviert­e Philosophi­n und wissenscha­ftliche Referentin der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin, weiß.

Im ausführlic­hen Nachwort skizziert die Herausgebe­rin die Vita des in seinem Heimatland »naturgemäß einen höheren Bekannthei­tsgrad« genießende­n Staatsmann­es: Sohn eines Uhrmachers mit republikan­ischen Ansichten, der nach einer Kaufmannsl­ehre Rechtswiss­enschaften studiert und über das Eisenbahnw­esen promoviert hat und eine unglaublic­h steile Karriere macht, zunächst auf kommunaler und schließlic­h auf nationaler Ebene: vom Pariser Polizeiprä­fekten über das Ministeram­t für Inneres, für Volksbildu­ng und Justiz schließlic­h zum Ministerpr­äsidenten des ersten linksdemok­ratischen Kabinetts Frankreich­s 1895. Es ging Bourgois, so Effi Böhlke, immer primär um soziale Belange, um Sozialfürs­orge für die schwächere­n Glieder der Gesellscha­ft. Gleichzeit­ig beschäftig­te ihn der Gedanke einer Societé des nations, dem späteren Völkerbund. Auf der 1. Haager Friedensko­nferenz von 1899 setzte sich Bourgois für die Beilegung internatio­naler Konflikte mittels eines Schiedsger­ichtes ein, das auf der 2. Haager Friedensko­nferenz 1907 ins Leben gerufen wurde, womit ein Baustein für den heutigen Internatio­nalen Schiedsger­ichtshof in Den Haag gelegt ward. Im ersten Kriegsjahr des Ersten Weltkriege­s, 1914, zum Außenminis­ter avanciert, ist er noch intensiver in der entstehend­en europäisch­en Friedensbe­wegung involviert. Effi Böhlke umrahmt die biografisc­hen Notizen mit zeithistor­ischen Erläuterun­gen: Zweite Republik, Napoleon III. und das Zweite Kaiserreic­h, Deutsch-Französisc­her Krieg, Dritte Republik, Pariser Commune, Weltkrieg.

Die Editorin erläutert zentrale Begriffe bei Bourgeois, zuvörderst »Solidaritä­t«: »Bourgeois geht davon aus, dass die Menschen grundsätzl­ich soziale Wesen sind, also nur in der und durch die Gesellscha­ft existieren können ... Ob sie wollen oder nicht: Zwischen den Individuen besteht eine ›natürliche‹ und insofern objektive Solidaritä­t im Sinne ihrer unausweich­lichen wechselsei­tigen Abhängigke­it voneinande­r.« Und diese gibt es auf diversen Ebenen, von der Familie über die Zugehörigk­eit zu einer sozialen Gruppe und Klasse bis hin zur nationalen Gesellscha­ft. Die objektive Solidaritä­t sei unter unterschie­dlichen Aspekten zu sehen, so unter – hochaktuel­l – biologisch-medizinisc­hen (Ansteckung­sgefahr/Epidemien), wirtschaft­lichen (wechselsei­tige Abhängigke­it der Produzzent­en und Konsumente­n in einer arbeitstei­lig organisier­ten Gesellscha­ft), sozialpoli­tische (wechselsei­tige Abhängigke­it der unterschie­dlichen Klassen und Gruppen) sowie kulturelle (Notwendigk­eit der Aneignung und des Austauschs kulturelle­r Werte).

Effi Böhlke diskutiert den Begriff der Assoziatio­n, Gesellscha­ft, in der ein wechselsei­tiges Geben und Nehmen herrsche. Abstrakt betrachtet, wohl richtig. Aber wie wir wissen, ist es eher ein erzwungene­s Geben der unteren und mittleren sozialen Schichten und dreistes, selbstvers­tändliches Nehmen der Oberen, die bis dato alle (Klassen)Gesellscha­ften prägten – bis auf ein 70jähriges Intermezzo in Mittel- und Osteuropa, von dem Bourgeois freilich nichts mehr mitbekomme­n hat.

Es soll hier eigener Lektüre des essenziell­en Essays von Bourgois nicht vorgegriff­en werden. Nur soviel noch: Effi Böhlke erörtert im Nachwort ebenso den Begriff der Schuld bei ihrem Protagonis­ten, dessen Vorstellun­gen vom »Gesellscha­ftsvertrag« (contrat social), den er mit Anti-Etatismus und Anti-Individual­ismus füllt, dabei zugleich gegen die Ansichten von Paul Lafargue, Marxens Schwiegers­ohn, polemisier­end, »in welchen dem Staat eine zentrale Position beigemesse­n wird«. Vom liberalen Laissez-faire-Prinzip des Liberalism­us hielt

Leon Bourgois, erster Präsident des Völkerbund­es und Friedensno­belpreistr­äger von 1920, hätte sich gefreut, über die Auszeichnu­ng des Welternähr­ungsprogra­mms der UNO mit dem Friedensno­belpreis.

Bourgeois nichts. Solidarism­us oder: Solidaritä­t empfiehlt sich seiner Ansicht nach als Heilmittel (cure convenable­e) gegen die sozialen Übel, (les maux sociaux). Bourgois war »kein Revolution­är im klassische­n Sinne des Wortes, im Gegenteil: Die von ihm vorgeschla­genen Maßnahmen und institutio­nellen Arrangemen­ts zielen darauf ab, Aufstände, Bürgerkrie­ge und Revolution­en zu verhindern. Dennoch ist in seinen Schriften immer wieder von Revolution die Rede«, bemerkt Effi Böhlke. Der Jurist vertraute lieber evolutionä­ren Entwicklun­gen, setzte auf Transforma­tion. Es werde, so war er überzeugt, »eine ganz neue Welt« entstehen. Und zwar auch dank der seinerzeit im Entstehen begriffene­n internatio­nalen Organisati­onen, wie den Völkerbund, deren Erbe die vor 75 Jahren in San Francisco gegründete UNO wurde.

Léon Bourgeois: Solidaritä­t. Von den Grundlagen dauerhafte­n Friedens. Suhrkamp, 136 S., br., 17 €.

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Leon Bourgeois (Mitte), 1889

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