Theorie und Praxis
Manfred Geier über die Liebe der Philosophen
In Theorie und Praxis gescheitert? Manfred Geier spürt manchem bislang verschämt behandelten Detail im Leben großer Philosophen, von Sokrates bis Foucault, nach und legt etliche Diskrepanzen zwischen deren öffentlichen Bekundungen und dem gelebten oder auch ungelebten Liebesleben offen. Die durchaus mitunter große Kluft zwischen Theorie und Praxis wird vor dem historischen Hintergrund der jeweils vorherrschenden moralischen und religiösen Anschauungen in der Gesellschaft beleuchtet. Den Buchumschlag ziert bezeichnenderweise ein Feigenblatt.
Der 1943 geborene Autor lehrte jahrelang Sprach- und Literaturwissenschaften in Marburg und Hannover. Er hat viel beachtete Bücher über Immanuel Kant und Martin Heidegger, die Gebrüder Wilhelm und Alexander von Humboldt geschrieben. Einigen, so den Humboldts, von denen der eine ein erfolgreicher Frauenheld war, der andere nur »verdeckt« seine homoerotischen Vorlieben ausleben konnte, begegnen wir in Geiers neuem Buch wieder. Man mag bedauern, dass dieser nur »Die Liebe« männlicher Philosophen untersucht und beschreibt. Gelegentlich würdigt er aber auch das Liebesleben der Ehefrauen oder Geliebten dieser Männer. So kommt Hannah Arendt im Zusammenhang mit Martin Heidegger zu Wort. Und Rehabilitation erfährt die zu Unrecht vielgeschmähte Xanthippe, Ehefrau von Sokrates, einem wahren Schwerenöter in Liebesdingen, der eigentlich nur die »Liebe zur Weisheit«, die Philo-Sophia gelten ließ.
Der klassische Libertin im »Club der Philosophen« des Manfred Geier ist natürlich der »geile« Marquis de Sade, der in einem Doppelporträt dem »ehrenwerten« Abstinenzler Kant zur Seite gestellt wird. Dieser Kontrast hatte schon den französische Psychoanalytiker Jacques Lacan wie auch Theodor W. Adorno gereizt: Der eine, der nicht genug bekommen konnte und von seiner Frau noch im Gefängnis mit geeigneten Instrumenten zur Masturbation versorgt wurde, und der Philosoph des »Kategorischen Imperativs«, der eine Phobie vor allen Körperflüssigkeiten hatte.
Soweit das Liebesleben der Philosophen – Geier beleuchtet auch das Bild von der Liebe in deren Werk und spiegelt alles am zeitgenössischen Mainstream. Den (prüden) »Zeitgeist« prägte für 2000 Jahren ausgerechnet ein Mann, der in jungen Jahren ausschweifend gelebt hatte: Augustinus, der die Ehelosigkeit in die katholische Welt trug und »Liebe« nur noch zu Gott zuließ. Opfer eines aus diesem abgeleiteten späteren »Zeitgeistes« wurde Ludwig Wittgenstein, der seine homoerotischen »Freundschaften« nie offen leben konnte. Anders der französische Starphilosoph Michel Foucault, der nach kalifornischen Schlüsselerlebnissen eine schwule Libertinage lebt, die ihn schließlich das Leben kostete. Der schwermütige Søren Kierkegaard dagegen scheiterte an seinem Selbstzweifel, ob er seiner Geliebten und für kurze Zeit auch Verlobten Regine sein eigenes düsteres Wesen zumuten könnte. Ebenfalls dem seinerzeitigen gesellschaftlichen Druck folgte Jean-Jacques Rousseau, der mit seiner aus einfachen Verhältnissen stammenden Lebenspartnerin, die er aus Standesgründen nicht heiraten konnte, fünf Kinder hatte und jene, um sie nicht der »Schande« unehelicher Kinder auszusetzen, alle gegen den Willen der Mutter einem Findelhaus übergab. Also, auch bei einem Vordenker der Revolution klafften Theorie und Lebenspraxis erheblich auseinander.
Die elf biografische Miniaturen sind elegant erzählt, die Werke der Protagonisten kenntnisreich interpretiert. Lustvoll enthüllt Manfred Geier en passant, dass auch die Philosophen, »die sich gegen die sexuelle Wollust zur Wehr setzen wollten, sich ihrer verführerischen Stärke bewusst waren«. Es gelang ihnen nicht immer, dieser durch permanente Reflexion oder reiner Willenskraft zu entfliehen.
Manfred Geier: Die Liebe der Philosophen. Von Sokrates bis Foucault. Rowohlt, 351 S., geb., 24 €.
Rehabilitation erfährt die zu Unrecht vielgeschmähte Xanthippe, Ehefrau von Sokrates, einem wahren Schwerenöter in Liebesdingen.