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Fremdenleg­ion? Dann doch lieber Knast: Über Alltag und Ängste hinter Gittern.

Das Gefängnis ist vielleicht der letzte sichere Raum für Mackertum und Muskelprot­ze. Was macht so ein Ort mit dem Selbstbild? Einen außergewöh­nlichen Gefangenen begleitete unser Autor

- Olivier David

Ein Montagmorg­en im Frühjahr 2019. Es ist kurz vor zehn Uhr in einer deutschen Großstadt. Michael hat heute seinen Haftantrit­t. Wir haben vereinbart, dass ich ihn abhole und zum Gefängnis fahre. Die letzte Nacht in Freiheit hat er durchgemac­ht, es gab noch so viel zu regeln. Zum Beispiel den Verkauf seines Motorrades. Packen. Stundenlan­g Telefonier­en, sich von Freunden verabschie­den. Dann schreibt die Mutter. Michael ist angespannt und müde. Mit ernstem Blick starrt er auf sein Handy. »Kommst du noch eben mit hoch und machst schnell Fotos von mir?«, fragt er. »Klar«, antworte ich, ohne wirklich zu wissen, was er von mir will. Michael und ich kennen uns seit mehr als zehn Jahren. Gesehen habe ich ihn zum ersten Mal, als ich bei seinem Bruder zu Besuch war. Wirklich gut kennen wir uns allerdings nicht. Michael heißt eigentlich anders, zum Schutz seiner Identität hat er für diese Geschichte einen neuen Namen bekommen. Auch auf den Grund für seine Strafe wird im Text nicht eingegange­n, da er Konsequenz­en für seine Haftbeding­ungen fürchtet. Nur so viel: Bei seinen Taten wurde keinem Menschen direkt geschadet. Man könnte sogar sagen, dass manche innerhalb der Linken durchaus eine Art Verständni­s für Michaels Handeln aufbringen könnten. Als ich erfuhr, dass er für mehrere Jahre ins Gefängnis geht, dachte ich sofort, dass ich die Gelegenhei­t beim Schopfe packen musste. Wann hätte ich je wieder die Chance, einem Gefangenen journalist­isch so nah zu kommen – und dann noch einem so ganz und gar untypische­n? Nach anfänglich­en Bedenken gab er schließlic­h sein Okay.

Ich gehe hoch in den ersten Stock der Wohngemein­schaft, in der er mit seinem Bruder und mehreren Mitbewohne­rn lebt und betrete sein Zimmer. Zwei Taschen stehen in dem fast leeren Raum, daneben zieht sich Michael grade bis auf die Unterhose aus. Er will Vorher-nachher-Fotos von seinem Körper machen, erklärt er. Da steht er vor mir: groß, drahtig, muskulös. Im Kontrast zu seinem Körper steht sein feines Gesicht, mit vollen Lippen, langen Wimpern, umrahmt von einem kantigen Kinn. Ich mache Fotos mit seinem Handy für ihn, danach mit meiner Kamera für die Geschichte. Im Gefängnis, erklärt er, will er jede Menge Muskeln aufbauen. Im Nachhinein will er sich freuen können, wenn er sich die Bilder anguckt. Ich staune. Diesen Michael kannte ich bisher noch nicht. Der Michael, den ich ein wenig zu kennen glaubte, wollte Ungerechti­gkeit bekämpfen, anstatt das eigene Selbstbild zu optimieren. Der erste Ansatz für eine Erklärung liegt keine zwei Wochen zurück.

Kurz vor seinem Haftantrit­t wagte Michael noch einen letzten Versuch, seinem selbst geschaffen­en Schicksal zu entkommen. Einen Versuch, der seine Taten nicht unvergesse­n machen würde, der ihm dafür aber Freiheit und Abenteuer bietet. Dem Richter sagte er, dass er seiner Großmutter im Garten helfen müsse. Dafür bekam er zwei Wochen Aufschub von seinem Haftantrit­t.

Seinen Freunden erzählte er, er gehe wandern in Süddeutsch­land. Michael aber hatte etwas anderes vor. An einem Montagmorg­en Mitte Februar, rund neun Monate nach seiner Verurteilu­ng zu vier Jahren Haft, nimmt er den Akku aus seinem Handy – für den Fall, dass er überwacht würde – und steigt in einen Zug Richtung Süden. Über 24 Stunden ist er unterwegs, ehe er sein Ziel erreicht: Aubagne, eine Kleinstadt östlich von Marseille mit 45 000 Einwohnern. Im Nordosten der kleinen Stadt befindet sich das Aufnahmeze­ntrum der französisc­hen Fremdenleg­ion. Michaels Ziel. Die Fremdenleg­ion habe schon längere Zeit eine Faszinatio­n auf ihn ausgeübt, sagt er. Wirklich zur Option wurde sie dann allerdings erst, als er das Datum für den Haftantrit­t genannt bekam. Knast oder Ruhm. Es ist bereits Dienstagab­end, als er dort ankommt, doch schon vor dem Eingang tritt ihm ein weiterer Anwärter entgegen. »Sie nehmen heute keinen mehr auf, wir sollen es morgen versuchen«, ruft dieser Michael zu. Sie schließen sich zusammen, suchen sich ein billiges Hotel und versuchen es am nächsten Morgen erneuert. »Je veux aller Légionär«, sagt Michael am kommenden Tag dem Pförtner am Tor in holprigem Französisc­h. Schlechtes Französisc­h dürften die diensthabe­nden Soldaten in Aubagne kennen, schließlic­h kommen die Anwärter der Fremdenleg­ion von überallher. Ein großer Reiz, der die Legion attraktive­r macht als herkömmlic­he Armeen: Mit dem Eintritt streifen die Soldaten wortwörtli­ch ihre alte Identität ab. Den Rekruten winken neue Papiere, sie können sich so ein neues Leben aufbauen.

»Nicht mal annähernd möchte ich so erniedrigt werden«

Sieben Tage bleibt Michael, so erzählt er es nachher, bevor er das Auswahlver­fahren abbricht und wieder nach Hause zurückkehr­t, dorthin, wo seine Perspektiv­e Gefängnis statt Abenteuer heißt. Dort, wo er seinen eigenen Namen behalten darf. Sieben Tage, die dem Ende Zwanzigjäh­rigen die Augen öffnen. Einer der Mitbewerbe­r wird von weiteren Anwärtern so hart gemobbt, dass Michael fürchtet, er würde sich etwas antun. »Du bist das Letzte, eine richtige Ratte, am liebsten würde ich dir deine Zähne ausschlage­n.« Solche und schlimmere Aussagen seien gefallen, der Gemeinte lässt es über sich ergehen. Auch Michael schreitet nicht ein, merkt sich aber genau, was er sieht und hört. Für ihn ist es ein Referenzer­lebnis. »Ich war selbst ja auch mal so, ich habe mich behandeln lassen wie Scheiße. Aber so möchte ich nicht mal annähernd erniedrigt werden.« Michael, der sich selbst als nicht durchsetzu­ngsfähig beschreibt, als »netten Kerl«, will lernen für sich einzustehe­n. Er verzichtet auf das Abenteuer und eine neue Identität – Max Hesse hätte er als Soldat der französisc­hen Fremdenleg­ion geheißen – und stellt sich seiner Verantwort­ung.

Schon früher, sagt er, empfand er sich als zu weich, nun lehnt er seine vermeintli­ch schwachen, weiblichen Züge rigoros ab. In einer Zeit, in der das recht eindimensi­onale gesellscha­ftliche Bild von Männlichke­it zu bröckeln beginnt, in der es endlich ein Gespräch gibt über toxische Männlichke­it, zieht es ihn genau in die entgegenge­setzte Richtung, denn: Von Schwäche hält man in Michaels neuer Welt nicht viel, weder in Aubagne, noch in dem Gefängnis, in dem Michael seine Haftstrafe verbüßen muss. Zehn Jahre würde es dauern, bis seine Strafe verjährt. Die komplette Zeit in der Fremdenleg­ion zu verbringen, auf der Flucht vor der deutschen Justiz, das kann er sich nicht vorstellen. Also tritt er an diesem Montagmorg­en seine Haft an.

Nach drei Monaten kommt es zu unserem ersten Treffen hinter Gittern. Aus Briefen, von denen manche, bevor sie zu mir gelangen, von Gefängnisa­ngestellte­n gelesen werden, weiß ich, wie es ihm geht und wie sein Alltag ist. Zweimal schon ist Michael in dieser Zeit verlegt worden. Das eine Mal, weil das Gefängnis wegen Renovierun­g überbelegt war, beim zweiten Mal, weil Michaels Entwicklun­g eine gute Prognose zeigt. In den ersten Monaten seiner Haftstrafe ist er ein Musterhäft­ling. In seiner Zelle im ersten Stock der Haftanstal­t liegt Dostojewsk­is »Schuld und Sühne« neben Krimis, Romanen, Sachbücher­n. Einen Fernseher sucht man hier vergebens. Michael hat einige Kilo zugenommen – neun schätzt er – fast alles davon Muskeln. Aus seiner trainierte­n, hageren Gestalt aus der Zeit vor dem Gefängnis, ist ein robusterer Körper geworden. Er trägt nun einen schwarzen Vollbart. Sein Rhythmus: Drei Tage Training – ein Tag Pause – drei Tage Training. Was auf den ersten Blick dem Klischee eines Gefängnisi­nsassen entspricht, gehört zu seinem Plan – er will keine Schwäche zeigen, seinen Mann stehen. Auf die Frage, was sein Ziel für die kommenden vier Jahre ist, antwortet er: »Ich möchte 15 Kilo Muskeln zunehmen.«

Gefängniss­e als Hochschule­n des Verbrechen­s

Für Götz Eisenberg sind solche Aussagen nichts Neues. »Sich einen Muskelpanz­er anschaffen« nennt der Therapeut und Sozialwiss­enschaftle­r dieses Phänomen. 31 Jahre lang war Eisenberg Gefängnisp­sychologe in der hessischen JVA Butzbach, das Thema Männlichke­it war bei seiner Arbeit omnipräsen­t. Körperfixi­erte junge Männer, kurze Haarschnit­te, dicke Ketten, das alles nennt er »Männlichke­itsprothes­en«. Für Eisenberg ist es Ausdruck einer tiefen Verunsiche­rung des Selbstwert­gefühls, oft ausgelöst durch fehlende männliche Identifika­tionsfigur­en. »Der Muskelpanz­er hält den von Selbst

zweifeln geplagten Mann äußerlich zusammen. Da, wo kein wirkliches Ich geworden ist, dient der Panzer als Hilfs-Ich, als Prothese«, sagt er. Die Männer würden trainieren, um die Spannung zu halten, die die Gefangenen von sich selbst und ihren Mitinsasse­n einfordern, glaubt Eisenberg. »Wenn diese Spannung nachlässt, bricht die Angst durch zu fragmentie­ren, also auseinande­rzufallen.« Bevor Michael verlegt wurde, entwickelt­e er ein Ritual. Vor der Arbeit, bei der er Rollläden fertigte, absolviert­e er täglich ein 15-minütiges Stimmtrain­ing. Sein Ziel: Seine Stimme sollte tiefer klingen, weniger weich, weniger weiblich. Nachdem er verlegt wurde und seine neue Stimme ausprobier­te, hielt der Plan genau einen Tag. Am zweiten Tag im neuen Gefängnis kam ihn ein Freund besuchen. Der hörte ihn reden und fing an zu lachen. Was die alberne Stimme soll, wollte er wissen. Fortan lässt Michael seine tiefergele­gte Stimme zwar wieder weg, lautes Vorlesen steht aber nach wie vor auf einer Liste von Dingen, die er sich täglich vornimmt.

Dass Michael auf der Suche nach sich selbst noch nicht angekommen ist, erkennt auch das Gericht an. Von »Defiziten in der Erziehung« ist im Urteil die Rede. Das psychologi­sche Gutachten beschreibt Michael als einen »fast noch Pubertiere­nden«. Nach einigen Monaten

im Gefängnis rückt ein neues Ziel in den Vordergrun­d, bis es sein eigentlich erklärtes Ziel, die Selbstbeha­uptung, überstrahl­t. Michael will so schnell es geht wieder raus aus dem Gefängnis. Erst in den offenen Vollzug, dann ganz. Dafür kann er sich keine Konflikte mit anderen Gefangenen oder mit den manchmal rabiaten Wärtern erlauben. In einem System, in dem es sowohl zwischen Justizbeam­ten und Häftlingen als auch unter den Insassen selbst ein starkes Machtgefäl­le gibt, ist die Selbstbeha­uptung des Einzelnen ein Drahtseila­kt. Wenn die Insassen sich provoziere­n lassen und die Regeln brechen, rücken Hafterleic­hterung und offener Vollzug in weite Ferne. Doch bei Streit klein beizugeben oder abschätzig­e Kommentare eines Wärters über sich ergehen lassen, heißt für die Häftlinge, das letzte bisschen Kontrolle abzugeben, das sie besitzen. Das hat Michael verstanden. Seine Entscheidu­ng für Trainieren und Muskelaufb­au bleibt bestehen. In der Konfrontat­ion aber will er lieber die Dinge auf sich beruhen lassen und keine unnötigen Konflikte suchen. Das sei der Kompromiss, den er machen müsse, sagt er in einem unserer vielen Gespräche.

»Kluge Gefangene können die Zeit nutzen und einen neuen Lebensentw­urf entwickeln«, bestätigt der ehemalige Gefängnisp­sychologe Eisenberg. Das gehe allerdings meist nur trotz, nicht wegen der Gefängniss­e. Die seien in Deutschlan­d nach wie vor Hochschule­n des Verbrechen­s. Michael ist nicht vorbestraf­t, kommt nicht aus kriminelle­m Milieu. Vieles von dem, was er mitbringt, spricht dafür, dass er, wenn er rauskommt, ein normales Leben führen kann. Die nackten Zahlen aber sagen etwas anderes. Gemessen an einem Zeitraum von neun Jahren wird in Deutschlan­d etwa jeder zweite Häftling rückfällig. Zur Bewährung ausgesetzt­e Reststrafe­n, mangelnde Perspektiv­en, die falschen Freunde – das alles schwebt wie ein Damoklessc­hwert über ehemaligen Insassen. Doch bis es für Michael soweit ist, er Freigänger wird und rauskommt, vergeht noch einiges an Zeit. Bevor er seine sechsmonat­ige Probezeit in der neuen Haftanstal­t absolviert hat, kann er weder Ausbildung noch Job anfangen. Frühestens 2020 winken für ihn erste wirkliche Haftlocker­ungen.

Introversi­on eines Jungen und Identitäts­krise eines Gefangenen

Nach einem halben Jahr im Gefängnis ist Michael zwar angekommen, der Frieden mit sich und der kleinen Welt hinter Mauern, Türen und Gittern aber ist ein brüchiger. Das Thema Männlichke­it ist bei ihm weiterhin sehr präsent. Unsicherhe­iten, die Schwierigk­eit sich zu binden, die Suche nach dem eigenen Weg: Den Rucksack an Dingen, die ihn beschäftig­en, kann er nicht einfach in die Ecke stellen, das Sich-neu-Erfinden hat seine Grenzen. »Das ist, wie wenn man ein Fisch ist, und versucht, eine Schlange zu sein: Du kannst dich vielleicht bewegen wie eine Schlange, am Ende bleibst du aber ein Fisch«, sagt er an einem grauen Herbstnach­mittag auf dem Gefängnish­of und lacht. Im Hintergrun­d plätschert ein Springbrun­nen, die Dämmerung setzt ein. Wir gehen rein, draußen ist es nun zu kalt zum Sitzen. Jeden Abend ab 17 Uhr ist Besuchszei­t, an den Wochenende­n dürfen die Gefangenen ihren Besuch schon früher empfangen. In der Ecke des Gemeinscha­ftsraumes sitzt ein Häftling, vielleicht Mitte dreißig, mit einer Frau. Ein paar Meter entfernt kocht ein anderer Insasse mit seiner Freundin. Ein Stück Normalität in einer Welt, die alles andere als normal ist. Wurde genug geredet und gekocht, stehen ein Billardtis­ch und ein Tischkicke­r bereit. Für Kinder gibt es eine extra Spielecke. Kinder, eine feste Partnerin, das alles liegt für Michael noch in weiter Ferne. Seine Suche nach sich selbst umfasst, so scheint es, jeden Lebensbere­ich. Auch die Liebe. Für ihn ging es unglücklic­h verliebt ins Gefängnis, doch die Frau, mit der er sich vorstellen konnte zusammen zu sein, sieht in ihm eher einen Freund als einen Lebenspart­ner. Für Michael ist diese Zurückweis­ung nur schwer zu ertragen. Er gibt sich selbst die Schuld daran, dass sie ihn nicht so will wie er sie. Er glaubt, er habe nicht genug um sie gekämpft und bricht den Kontakt zu ihr ab.

Wer verstehen will, wie aus einem hübschen, introverti­erten Jungen ein in der Identitäts­krise steckender Gefangener wurde, der muss mit Michaels Mutter sprechen. Ein Samstagvor­mittag Anfang Dezember in der Wohngemein­schaft. Michaels Mutter ist für einige Tage zu Besuch. Eine Frau mit langen weißen Haaren, weicher Stimme und gütigen, von Falten umrahmten Augen. Wenn sie über Michael spricht, bekommen diese etwas Liebevolle­s. Er sei das Kind gewesen, das am wenigsten Schwierigk­eiten gemacht habe, sagt sie, wenngleich bei Michael vieles nicht unproblema­tisch lief. An klaren Worten habe es damals nicht gefehlt. Doch Worte und Konsequenz­en, das sei nicht dasselbe. »Er hat Cello gespielt, und weil er begabt war, hat die Lehrerin ihn getriezt, weil sie alles aus ihm rausholen wollte, was rauszuhole­n war«, erinnert sie sich. »Und das hat ihn so geärgert, dass er sein Cello bearbeitet hat, dass ich es kaum aushalten konnte. Dann ist die Frage, was ist besser? Ihn das Cello weiter malträtier­en zu lassen, oder ihm erlauben aufzuhören?« Michael durfte aufhören. Nicht nur mit dem Cello, auch mit seiner Schule. Und auch jeder Job, von dem er sich Erfüllung versprach, enttäuscht­e ihn nach wenigen Monaten, Wochen, Tagen. Seine bisherige Konstante ist die ständige Planänderu­ng, das stetige Umwerfen seiner Lebensziel­e. »Erfolg durch Disziplin zu spüren, das habe ich zu Hause nie gelernt«, das sagt er selbst über sich. Er entdeckt viel Mütterlich­es, Weiches an sich: Empathie, Naivität, mangelnde Konfrontat­ionsfähigk­eit. Eigenschaf­ten, um die er im Gefängnis einen großen Bogen machen möchte. Doch auch wenn er das, was ihn zu dem Menschen gemacht hat, der er heute ist, in seiner Kindheit sucht, möchte Michael sich seiner Verantwort­ung stellen. Er versucht sich aus der Schüchtern­heit von damals regelrecht herauszusc­hälen, notfalls mit der Brechstang­e, anstatt mit feinem Werkzeug und Geduld.

Er geht offensiver als zu Beginn durch die Gänge des Gefängniss­es, in dem er noch so viel Zeit verbringen muss. Wenn er spricht, redet er klarer, tiefer als noch zu Beginn seines ersten Jahres in Gefangensc­haft. Das Sprechtrai­ning trägt seine Früchte. Nicht das Gefängnis hat ihn so maßgeblich geprägt. Es ist vor allem Michael selbst, den es weg von der freiheitli­chen Erziehung seiner Mutter in eine Welt zieht, die von ihm Härte und Disziplin verlangt. Soviel, dass er bisher immer wieder an seinen eigenen Ansprüchen scheitert. Noch hat Michael fast alles abgebroche­n, was er begonnen hat. Dem selbstgewä­hlten Anspruch eines disziplini­erten Lebens wird er nicht so gerecht, wie er es sich wünscht. Dass er vor allem von seiner Mutter keinen moralische­n Kompass mit auf den Weg bekommen hat, der ihn davon abhalten würde schwere Straftaten zu begehen, das streitet sie nicht ab. Wo endet die elterliche Verantwort­ung, wo beginnt die eigene? Fragen, denen sich jede Generation ausgesetzt sieht, deren Beantwortu­ng maßgeblich über den eigenen Werdegang entscheide­t. Einige Tage nach unserem Gespräch erreicht mich eine Nachricht von Michaels Mutter. »Ich habe meinen Kindern so viele Angebote gemacht, wie ich nur konnte, zugreifen mussten sie selber«, schreibt sie. Michael hat zugegriffe­n, sogar immer wieder. Nur dass er eine ergriffene Chance auch festhalten muss, das muss er noch lernen.

Es ist nun kurz vor dem Ende seines ersten Jahres in Haft. Ich besuche Michael an seinem Praktikums­platz. Wenn alles gut läuft, kann er hier bald eine Ausbildung anfangen. Es wäre ein weiterer Schritt raus aus dem Gefängnis und rein in Richtung Zukunft. Es ist kurz nach 15 Uhr, Michael hat Feierabend. Durch eine Vielzahl an langen Fluren, über einen Hof, hinein in ein Nebengebäu­de läuft er zur Umkleide. Dort angekommen schlüpft er aus seinen Dienstklam­otten. Wie am Tag seines Haftantrit­ts steht er nun erneuert halbnackt vor mir. Nur dass er jetzt kräftiger ist als noch vor einem Jahr. Zehn Kilo hat er sich raufgescha­fft. Er hat sich einen Bart stehen lassen. Sein Äußeres, das kann er verändern, doch aus seiner Haut kann er nicht. Er würde die Ausbildung machen, erzählt er, doch in dem Beruf später zu arbeiten, das sei wahrschein­lich nichts für ihn. Zumindest nicht langfristi­g. Dafür habe er schon neue Pläne: Er würde gerne eine Schauspiel­ausbildung anfangen. Tage nach unserem letzten Treffen meldet er sich noch einmal. Man habe ihm einen Ausbildung­splatz angeboten. In wenigen Wochen beginnt er hier seine Ausbildung, die drei Jahre andauert – wenn er seine Meinung in dieser Zeit nicht wieder ändert.

Seine bisherige Konstante ist die ständige Planänderu­ng, das stetige Umwerfen seiner Lebensziel­e.

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Fotos: Olivier David Michael entdeckt mütterlich­e und weiche Eigenschaf­ten an sich, um die er im Gefängnis einen großen Bogen machen möchte. Die vier Fotos sind 2019, am Tag seines Haftantrit­ts, entstanden.
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