nd.DerTag

Gewöhnung an rechten Terror

Sebastian Bähr über Nazi-Uniformen und Granaten

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Eine dieser Polizeimel­dungen, bei der einem eigentlich mehrmals die Kinnlade runterklap­pen müsste: Durch Zufall sind bei Razzien in Baden-Württember­g und Bayern Ermittler auf eine Gruppe gestoßen, die offenbar in Wehrmachts­uniformen samt Naziabzeic­hen Kriegsszen­arien nachgestel­lt – oder geübt – hat. Zahlreiche Kriegswaff­en sowie Granaten und Zündkapsel­n wurden entdeckt, es brauchte mehrere Lkw, um sie abzutransp­ortieren. Bei dem Einsatz mussten Beamte sogar einen Schuss abgeben. Antifaschi­stische Experten weisen darauf hin, dass womöglich wieder eine neue extrem rechte »Wehrsportg­ruppe« aufgefloge­n ist. Entspreche­nde Gruppen hatten vor allem in den 1970er bis 1990er Jahren für einen Umsturz trainiert, einige waren in rechte Terroransc­hläge wie das Münchner Oktoberfes­tattentat 1980 involviert. Die Behörden schert das wenig: Sie ließen die Tatverdäch­tigen wieder auf freien Fuß.

Diese mittlerwei­le schon fast erwartbare Reaktion der Polizei ist dabei nicht mal das Bitterste. Das ist vielmehr die öffentlich­e Reaktion: Aufschrei und Empörung sind im Anschluss an das Auffliegen der Gruppe einfach ausgeblieb­en. Man könnte spekuliere­n, dass zwischen zweiter Welle der Corona-Pandemie und US-Wahlkampf einfach wenig mediale Aufmerksam­keit übrig bleibt, doch es geht wohl darüber hinaus: Fast täglich fliegen derzeit irgendwo in Deutschlan­d extrem rechte Strukturen auf, ein Großteil davon in Sicherheit­sbehörden. Selbst antifaschi­stische Recherchep­rofis kommen bei den ganzen »Einzelfäll­en« kaum noch hinterher. Bei einem Teil der Bevölkerun­g droht nun Gewöhnung und Abstumpfun­g einzusetze­n. Das ist vielleicht die größte Gefahr.

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