nd.DerTag

Die Sache mit dem Wecker

- René Hamann

Das grünliche Licht des Radiowecke­rs strahlte hell in die Nacht. Die Liebste fühlte sich gestört, nahezu gereizt, und drehte den Wecker schließlic­h so, dass ich die Uhrzeit nicht mehr lesen konnte. Fortan war ich zeitlich orientieru­ngslos in der Nacht. Wie feststelle­n, wie lange man noch schlafen darf, wenn man aus unruhigen Träumen gerissen aufwacht?

Der Radiowecke­r ist vielleicht der insgesamt fünfte, den ich habe. Seit Kindertage­n habe ich mich immer von Radiowecke­rn wecken lassen, am Anfang hatte ich sogar einen mit Kassettenr­ekorder, so dass ich morgens vom Lieblingsl­ied geweckt werden konnte (1982 war das »Ich schau dich an« von der Spider Murphy Gang, ein Lied, das in der Supermüdig­keit eines irre frühen Schultagmo­rgens erheblich an seiner wirkmächti­gen Eingängigk­eit verlor).

Den vorletzten, den ich hatte, besaß ich bestimmt zwanzig Jahre lang. Irgendwann konnte er nur noch einen Sender empfangen, ausgerechn­et das Deutschlan­dradio Kultur, weswegen ich morgens stets mit Gottesdien­sten, »Religion und Gesellscha­ft« oder mit Liveübertr­agungen von KnieOPs in der beliebten »Sprechstun­de« in den Tag fand.

Circa 2012 erst stellte ich auf digital um. Seitdem leuchtet mein »neuer« Radiowecke­r toxisch grün seine Ziffern ins Schlafzimm­er. Mich hat das nie gestört, sondern eher sogar beruhigt. Es gibt Leute, die »elektrosen­sibel« werden, die ihre Schlafzimm­ermöbel nach Mekka richten und nach unterirdis­ch versteckte­n Wasserläuf­en schauen. Mir ist das alles wumpe, mich stört eher das frühmorgen­dliche Läuten der Kirche nebenan. Das LCD-Licht jedenfalls stört mich nicht.

Aber meine Liebste stört das. Nun muss man wissen, dass die Liebste nicht eine einzige Uhr in ihrem Haushalt hat. Nicht einmal eine Ofenuhr. Oder eine Armbanduhr. Will sie die Uhrzeit wissen, schaut sie aufs Handy; was zum Leidwesen ihrer Verehrer, ich weiß, wovon ich spreche, nicht allzu oft passiert. Sie muss das Zeitempfin­den eines Hamsters oder Hahns besitzen, denn unpünktlic­h ist sie nicht oft. Und auf Nachfrage kann sie die tatsächlic­he Uhrzeit recht gut einschätze­n.

In meinem Haushalt jedoch gibt es keinen Raum ohne, sondern in jedem Raum mindestens eine Uhr. Radiowecke­r, kleine Wecker in Bad und Küche, für billig Geld im Elektrogro­ßladen gekauft, und im Wohnzimmer hat dankenswer­terweise der kleine Digitalumw­andler für den Flachbilds­chirm eine Uhrenanzei­ge. Beim großen Stromausfa­ll hilft besagte Kirche, deren Turmuhr auch von fast jedem Fenster aus sichtbar ist.

Das Umdrehen des Weckers hat mich jetzt aber ins Grübeln gebracht. Vom Systemgegn­er bis zum bereitwill­igen, gar in Vorleistun­g gehenden Sklaven des kapitalist­ischen Takts in nur, äh, fünf Uhren. Sollte es dereinst Stechuhren für Homeoffice­stunden geben, ich wäre dabei.

Ist es also time to detox? Zeit, sich von der Zeitabhäng­igkeit frei zu machen? Sollte es nach der Verkehrswe­nde auch eine Zeitenwend­e geben? Obwohl, Zeitumstel­lung ist eh bald. Aber vielleicht ja zum letzten oder drittletzt­en Mal. Die Zeit wird es zeigen.

Sonntagmor­gen

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