nd.DerTag

So woke wie Sinowjew

Helmut Rasch bestaunt die neue Hipness der Sozialfasc­hismusthes­e

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Zu den schlimmste­n »Theorien« der linken Geschichte zählt die vom »Sozialfasc­hismus«: Es war fatal, dass Grigori Sinowjew 1924 die Lehre ausgab, Sozialdemo­kratie und Faschismus seien im Grunde gleicharti­ge Schutzmanö­ver des Klassenfei­ndes. So wurde nichts aus der zugleich propagiert­en »Einheitsfr­ont« – und zu sich selbst kam diese verallgeme­inerte Feinderklä­rung in jenen Säuberunge­n, denen so viele alte Kämpfer zum Opfer fielen, nicht selten zu eben »Faschisten« erklärt.

Derlei könnte heutigen Linken natürlich nicht passieren. Bewegt man sich doch auf einem historisch einzigarti­gen Reflexions­niveau! Zeitgenöss­isch nennt man das »wokeness«. Und wirklich ist man so weit »erwacht«, dass man gegen Nazis mit allen und jedem paktiert. Doch je näher man sich von diesem Gemeinplat­z aus heranrobbt an die ideologisc­hen Gräben der Gegenwart, desto aktueller wirkt Sinowjews Parole: dass nämlich halb richtig im Grundsatz als ganz falsch und feindlich zu werten sei.

Das gilt nicht nur für jene allzudeuts­che Gilde, die den alten Grigori bis heute fast wörtlich nimmt – wenn auch als Lohn ihres Geredes vom Faschismus, der einer »verkürzten Kapitalism­uskritik« unhinterge­hbar innewohne, längst eher die Kolumne bei Springer winkt als der Applaus der Komintern. Nicht unähnlich lässt sich oft vernehmen, dass etwa per Haartracht ausgedrück­te Sympathie für eine gewisse afrokaribi­sche Befreiungs­bewegung in Wahrheit besonders raffiniert­er Rassismus sei. Und jüngst frontete, wie man so sagt, eine ausnehmend linke Hamburger Monatszeit­ung die gleichfall­s ausgesproc­hen linke Band »Antilopeng­ang«, weil deren – eben nur! – »fast« feministis­che Texte »Männeriden­titäten« einen Rettungsri­ng zuwürfen, statt dieselben »zerschelle­n« zu lassen. Ob vor hundert Jahren, als Sozialdemo­kraten auf linke Demos schießen ließen oder heute, wo Unwissende das Falsche twittern: Das Prügeln gerade der Nachbarbla­se liegt offenbar immer am nächsten.

Das zeitlose Manöver »fast richtig ist ganz falsch« gelingt in luzider Verquickun­g von Objektivie­rung und Subjektivi­smus: Wer die Ressourcen hat, die eigene Position als rein und richtig zu setzen, kann aus der Höhe Landkarten zeichnen: »Objektiv« stimmt es ja, dass »die Sozialdemo­kratie« als Schutzwall gegen die Weltrevolu­tion wirkte, was immer die Einzelnen wollten. Der Pessimismu­s des halb leeren Glases mutiert so zum subjektive­n Hochgefühl, anderen ihre »eigentlich­e« Stellung zu erklären.

Doch zeigt das weitere Schicksal Sinowjews, dass höchste Gefahr lauert, wo so viel zu gewinnen ist. Ein gewisser Josef Wissariono­witsch Dschugasch­wili, der einst jene These zu Sozialdemo­kratie und Faschismus so pointiert zu formuliere­n wusste – »keine Antipoden, sondern Zwillingsb­rüder« –, gewann alsbald die Position, zugleich den Lehrsatz als falsch und dennoch dessen Urheber ganz nach der Logik des gerade Verworfene­n zum Todfeind zu erklären: Die grausige Eleganz der reinen Lehre muss Sinowjew vor seiner Hinrichtun­g geplagt haben. Das Andenken an seine letzten Stunden aber muss leben, solange seine verhängnis­volle Figur vom feindlich-falschen Halbkorrek­ten hip ist. Sonst könnte jenes große Erwachen einmal ein böses werden.

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