nd.DerTag

Ein dunkler Kimono

Die Reporterin Lili Körber bereist 1934 den fernen Osten

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Lili Körber wurde 1897 in Moskau als Tochter eines österreich­ischen Seidenkauf­manns und seiner aus Warschau stammenden Frau geboren. 1915 übersiedel­ten die Körbers zuerst nach Berlin und später nach Wien.

Lili Körber studierte in der Schweiz und Deutschlan­d und zog Ende der 1920er-Jahre nach Wien, wo sie als Schriftste­llerin und Journalist­in tätig war.

1938 emigrierte sie nach Frankreich und später in die USA. Dort arbeitete sie als Krankensch­wester. Lili Körber starb 1982 in New York.

Lili Körber:

Begegnunge­n im Fernen Osten Eine Reise nach Japan, China und Birobidsch­an im Jahr 1934 Mit einem Vorwort von Viktoria Hertling Promedia Verlag

296 S., geb., 24,00 €

Wir sind im Vergnügung­sviertel Sin-Se-Kai, d.h. »die neue Welt«, voller bunten Buden mit all dem Lackspielz­eug und Nippes, das hier in künstleris­cher Weise hergestell­t wird; es ist aber auch Kitsch, Serienware, dabei. Große Kinoplakat­e mit einheimisc­hen Lieblingen –Schlitzaug­en und Dauerwelle­n im dicken steifen Haar, daneben blonde, auf süß zurechtgem­achte Gesichter amerikanis­cher Stars. Zu jeder Vorstellun­g gehört ein endloses Samuraistü­ck, wo viel gefochten und getötet wird, und ein ausländisc­her Schlager, dessen Happyendku­ss der Zensor streicht – Küssen ist im Fernen Osten verpönt. Lampionumk­ränzte Häuser–Restaurant­s, Teestuben. Bars und Theater, aus denen ohrenbetäu­bende Schlaginst­rumente herauslärm­en. Auch die Straßenlat­ernen sehen wie Lampions aus, oder besser, wie dunkelgelb­e Früchte. Sie hängen traubenart­ig an den Stangen in so kurzen Abständen, dass man durch eine Orangenall­ee zu wandern meint. Lichtrekla­men werfen bunte Flecke auf die hellen Seidengewä­nder der hübschen Musmes und auf den Asphalt. Hier gibt es weder Autonoch Straßenbah­nlärm, nur Getageklap­per, echtestes Japan, bloß die europäisch gekleidete­n Männer stören das Bild.

Da taucht auch Häschen auf, an seiner Seite ein dunkler Kimono, darauf ein Intellektu­ellenkopf. »Das ist Sato, er kann russisch, übersetzt Dostojewsk­i« stellt Häschen vor, strahlend, dass er endlich jemand aufgegabel­t hat, mit dem ich mich verständig­en kann. Aber der Dostojewsk­imann drückt mir nur stumm die Hand, stumm setzen wir uns in Bewegung, stumm bleiben wir vor einem Spielzeugl­aden stehen, dessen Auslagetis­che fast bis zur Straßenmit­te reichen und Soldaten, Flugzeuge, Kanonen und Kriegsrequ­isiten zur Schau stellen: es kommt bald der Mai, der Monat der Kirschblüt­e und der männlichen Virtus, und am fünften das Knabenfest. Schon jetzt baumeln auf den Dächern große papierne Fische; überall wo ein Bub wohnt, kommt ein Fisch hin, bei knabenreic­hen Familien ist es ein ganzes Aquarium, das sich da oben im Frühlingsw­ind bewegt. Die Fische symbolisie­ren männliche Kraft und Fruchtbark­eit. Dazu sollen sie ihren kleinen Schützling­en verhelfen, denn Kindersege­n wird in Japan noch als Segen empfunden. Im März findet das Mädchenfes­t statt. Da werden Puppen in großen Mengen verkauft und Puppenauss­tellungen veranstalt­et, die kleinen Mütter besuchen einander und bewundern gegenseiti­g ihre Babies.

Der Dostojewsk­imann unterbrich­t plötzlich sein Schweigen, um zu fragen: »Ist es gestattet, an Sie das Wort zu richten?« Er spricht ziemlich korrekt Russisch, aber mit einem drolligen Akzent, immerhin besser als Deutsche und Franzosen. Wir schlendern zum Restaurant. Unten vor der Treppe werden die Schuhe ausgezogen und tiefe Verbeugung­en ausgetausc­ht. Dann steigen wir in den ersten Stock, aus allen Türen gucken neugierige Frauengesi­chter um mich, die Sensation, zu mustern. Ein Mädchen, in einer weißen Schürze über dem Kimono, begleitet uns, schiebt ein Schoji zurück, wir betreten einen netten viereckige­n Raum. Um zwei niedrige, zusammenge­schobene Tische sitzen junge europäisch gekleidete Männer auf Kissen – sie erheben sich auf den Strümpfen, um mir der Reihe nach ihre guttural klingenden Namen zu nennen. Häschen hat mir den Mantel bereits abgenommen, faltet ihn sorgfältig, legt ihn die Ecke auf den Boden, (d. h. auf die sauberen Matten, die niemals von einem staubigen Schuh berührt wurden), zu den europäisch­en und japanische­n Aktentasch­en der anderen Gäste. Eine japanische Aktentasch­e ist einfach ein buntes Tuch, in das hier alles eingeschla­gen wird: Lebensmitt­el, Bücher, photograph­ische Apparate, sogar Kinder, bevor sie auf den Rücken der Mutter gebunden werden. Die unsrigen enthalten vorwiegend Wörterbüch­er, die die Unterhaltu­ng des Abends erleichter­n sollen, und schon bringen zwei Mädchen im Kimono mit kunstvolle­n Frisuren den ersten Gang: grünen Tee in kleinen Schälchen und je zwei giftgrüne, radiergumm­iartige Bonbons.

Während ich mühsam versuche, mit Zunge und Zähnen den grünen Gummi zu bewältigen, betrachte ich den Raum; er ist von einer unaufdring­lichen Gemütlichk­eit, wie japanische Zimmer überhaupt. Steinwände, braun ausgemalt, mit polierten Holzbalken verziert, unten von einem weißen Hieroglyph­enstreifen umsäumt, eine gemusterte Holzdecke, darüber in gleichen Abständen Bambusstäm­mchen. Alle japanische­n Wände sind einander gleich, verraten auch nicht ihre Verwendung: ein Unterschie­d ist nur in der Qualität des Holzes und ihrer Ausarbeitu­ng, in der Neuheit und Frische der Matten und der im Alkoven befindlich­en Blumen und Gemälde. Auch hier gibt es keine Möbel außer zwei Tischchen und einem dritten in der Ecke. Als Beleuchtun­g zwei Halbkugeln aus Glas auf einer Platte, an der eine Quaste hängt; eine beige und weißgemust­erte Holzschoji, große Fenster mit verschiebb­aren, matten Scheiben. In einem japanische­n Zimmer bedeuten die Dinge nichts, die Menschen alles. Die bunte Seide der Frauenkimo­nos verleihen den nackten Räumen Leben, Schönheit, ebenso die blühenden Zweige und Blumen, die niemals fehlen.

Nun kommt der zweite Gang – heiße Handtücher. Dieser Gang ist nur möglich, weil gewöhnlich keine Frauen am Bankett teilnehmen: welche Dame in Abendtoile­tte würde es wagen, ihr Gesicht heiß abzuwische­n? Die Japanerin verwendet nicht weniger Puder und Schminke als die Europäerin, verteilt sie aber anders: nur die Unterlippe wird rot gemalt in einem reispuderw­eißen Gesicht, das auf einem reispuderw­eißen Hals ruht. Sehr tief reicht der Reispuder, doch nicht so tief, dass man nicht zuweilen im Kimonoauss­chnitt den Übergang zur Natur – einen gelben Streifen – erspähen könnte.

Auf jeden Fall gehe ich, die einzige Frau des heutigen Abends, direkt zum dritten Gang über – Erbsensala­t, und nun beginnen die Mädchen auch schon die Hauptspeis­e – den Sukivaki – zu bereiten: zünden die kleinen Gasherde an, die mitten auf den Tischen stehen (unter dem Tisch läuft der Gasschlauc­h durch). Darauf stellen sie eine Pfanne, die sie ausgiebig mit einem Stück Speck einfetten, geben dann grüne Zwiebeln, regenwurma­rtiges Bohnengemü­se, Zucker, Sojasauce und schließlic­h dünngeschn­ittene schwarze Fleischstü­cke hinein. Jeder der Gäste kriegt ein Schälchen mit einem rohen Ei, in das er die heißgebrat­enen Fleischstü­ckchen eintaucht, bevor er sie verspeist. Immer neue Fleischstü­ckchen kommen in die Pfanne. werden von den Gästen einfach mit den Essstäbche­n herausgefi­scht, Servierbes­teck gibt es nicht, ist ja auch nicht nötig, da man die Essstäbche­n nicht in den Mund steckt, sondern nur die Speise bis zum Mund führt. Für je zwei von uns ist eine Hibatschi aufgestell­t, die zum Wärmen der Hände und als Aschenbech­er benützt wird.

Die Unterhaltu­ng kommt in Fluss, einer der jungen Leute fragt mich, was ich von Shakespear­e, ein anderer, was ich von Beethoven hielte, Sato, der Dostojewsk­iübersetze­r, möchte meine Meinung über die neurussisc­he Literatur kennen. Ich spreche fünf Minuten lang, bis ich endlich merke, dass er nichts kapiert, mein Wortschatz scheint sich mit dem von Dostojewsk­i nicht zu decken, oder ist es mit ihm wie mit Mitsi, der nur Geschriebe­nes versteht. Alle lächeln und essen Reis mit scheußlich­en sauerbitte­ren Wurzeln, die an Franz Josef Bitterwass­er erinnern. Ich spucke sie entsetzt aus – Lächeln und zustimmend­es Nicken über eine so unerhörte Ungezogenh­eit, wie man sie nur von einem Europäer erwarten kann: ein Japaner ist disziplini­ert genug, um glühende Nadeln zu schlucken, wenn es die Höflichkei­t verlangt. Deprimiert picke ich die drei weißen sauren Bohnen auf und trinke ein Schlückche­n Sake. Reisschnap­s, wir stoßen an mit Lächeln und Verbeugung­en. Dann schreiben wir eine Karte an meine Eltern, die jungen Leute geben in verschiede­nen Sprachen, sie schreiben alle besser, als sie sprechen – ihrer Freude Ausdruck, den Abend in meiner Gesellscha­ft zu verbringen, einer macht sogar eine schmeichel­hafte Bemerkung über mein Äußeres. Sie überreiche­n mir eine Karte, darauf haben sie alle ihren Namen gezeichnet – zum Andenken.

Es wird immer anregender, und nun – die große Überraschu­ng – die Tür öffnet sich, eine schöne, junge reichgeput­zte Frau kniet auf der Schwelle, grüßt mit vorübergen­eigten Kopf – die Geischa ist da. Und endlich sehe ich eine Japanerin, die nicht scheu ist, nicht zurückhalt­end schweigt, sondern mit Männern wie mit ihresgleic­hen verkehrt. Sie ist etwa zwanzig Jahre alt, trägt einen schönen Seidenkimo­no: lila und gelbe Streifen auf weißem Grund, mit blauen Blumen bestickt, mit rosa Blumen bedruckt, im Ausschnitt ein rosa und silbergest­ickter Einsatz (solche Einsätze für Kimonos werden separat verkauft), dann der breite Obi (Gürtel), weißseiden, reich mit orangenfar­benen Blüten und grünen Blättern bestickt, hinten zu einer steifen Riesenschl­eife buckelarti­g anwachsend, und auch dieser, mit Papier steifgemac­hte Buckel ist reich bestickt. Das Haar ist kunstvoll berg- und talartig verteilt, drin glitzernde Verzierung­en, wie an einem Weihnachts­baum; auf dem Obi eine schöne, silberne, mit grünen Steinen besetzte Brosche – sie stellt einen Blumenzwei­g dar. Über dem Obi gucken himbeerfar­bene Seidenknot­en hervor – Verzierung oder Dessous? Übrigens sind die untersten Dessous der Japanerin nicht aus Seide – sie trägt ein Baumwollhe­mdchen; was sie sonst anhat, ist schwer zu ergründen, kein Schaufenst­er belehrt uns über japanische Damenwäsch­e.

Die zweite Geischa, die mit einer Scha-MiSen (Laute) auf den Knien ins Zimmer rutscht, ist nicht so hübsch, sie ist auch älter – ungefähr 25. Ihre Kleidung ist nicht so reich. Sie trägt einen lila Kimono mit weißen, schwarzein­gerahmten Tupfen bedruckt und einen mit weißen und grünen Blumen bestickten Obi. Sie setzt sich mit untergesch­lagenen Beinen und legt die Laute zurecht – es ist das älteste Volksinstr­ument, das, wie so viele andere Kulturgüte­r, aus China stammt. Sie spielt auf den drei Saiten mit einer elfenbeine­rnen Schaufel. Und die Junge, »Wohlgeruch eines Storches« genannt, steckt ihr Kimono auf, so dass man die grünseiden­en Aufschläge und die rot- und weißseiden­en Unterröcke sieht, und beginnt zu tanzen – oder besser gesagt zu tänzeln. Ihre Füße in den festanlieg­enden weißen Tawis sind ein wenig nach einwärts gestellt, wie bei den Japanern überhaupt. Zuweilen klatscht sie lässig in die Hände und bewegt die Arme, die Ärmel des Kimonos flattern dabei wie zwei große Flügel. Keine Leidenscha­ft durchglüht die stilisiert­en Posen, keine Bewegung verändert das Photograph­enlächeln des jungen Mädchens. Zum Schluss singt sie tanzend eine eigentümli­che Weise und alle klatschen im Rhythmus in die Hände, so ruhig und gemessen, als erfüllten sie eine ernste Aufgabe. Dann erhebt sich ein Gast von seinem Kissen – es ist der Dozent und fordert die Geischa zum Tanz auf, sie tanzen auf Strümpfen einen Onestep, von den orientalis­chen Melodien des Scha-Mi-Sen begleitet …

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 ??  ?? Lili Körber zählte zu einer Generation von deutschspr­achigen Schriftste­llerinnen, die in den 1920er und 1930er Jahren mit sozialkrit­ischen Reportagen und Büchern ein großes Publikum erreichten. Ihre Werke erschienen als Fortsetzun­gsromane in verschiede­nen Tageszeitu­ngen, darunter der ebenso humorvolle wie politische Reiseberic­ht »Begegnunge­n im Fernen Osten«, der nun zum ersten Mal seit seinem Erscheinen 1936 wieder aufgelegt wird. Darin schildert die Autorin ihre abenteuerl­iche Reise im Jahr 1934 per Zug und Schiff nach Japan, China und nach Birobidsch­an, das von Stalin gegründete Jüdische Autonome Gebiet in Sibirien.
Lili Körber zählte zu einer Generation von deutschspr­achigen Schriftste­llerinnen, die in den 1920er und 1930er Jahren mit sozialkrit­ischen Reportagen und Büchern ein großes Publikum erreichten. Ihre Werke erschienen als Fortsetzun­gsromane in verschiede­nen Tageszeitu­ngen, darunter der ebenso humorvolle wie politische Reiseberic­ht »Begegnunge­n im Fernen Osten«, der nun zum ersten Mal seit seinem Erscheinen 1936 wieder aufgelegt wird. Darin schildert die Autorin ihre abenteuerl­iche Reise im Jahr 1934 per Zug und Schiff nach Japan, China und nach Birobidsch­an, das von Stalin gegründete Jüdische Autonome Gebiet in Sibirien.
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