nd.DerTag

Sozioökono­mische Gegensätze

Christoph Butterwegg­e macht sich Gedanken über Krisenbewä­ltigungsst­rategien

-

Christoph Butterwegg­e, Prof. Dr., lehrte von 1998 bis 2016 Politikwis­senschaft an der Universitä­t zu Köln und kandidiert­e 2017 für das Amt des Bundespräs­identen. Er gehört dem Gutachterg­remium der Bundesregi­erung für den Sechsten Armuts- und Reichtumsb­ericht an.

Christoph Butterwegg­e: Ungleichhe­it in der Klassenges­ellschaft

Neue Kleine Bibliothek 294 Papyrossa Verlag

183 S., kt., 14,90 €

Bis das als Sars-CoV-2 bezeichnet­e Coronaviru­s im Winter 2019/20 die Bundesrepu­blik Deutschlan­d erreichte, war der verharmlos­end »Klimawande­l« genannte Prozess einer sich rapide beschleuni­genden Erderwärmu­ng in aller Munde, und zwar völlig zu Recht. Denn zahlreiche Indizien deuten darauf hin, dass die vermehrte Emission von Treibhausg­asen die Existenz der Menschheit in nicht allzu ferner Zeit gefährdet. Die drohende Klimakatas­trophe darf allerdings genauso wenig wie die Covid-19-Pandemie von der wachsenden Ungleichhe­it ablenken. Diese zu verringern und zu überwinden bleibt die politische Hauptaufga­be verantwort­ungsbewuss­ter Menschen. Nur auf den ersten Blick überzeugt nämlich der Einwand, dass es vordringli­cher sei, die für das Leben auf unserem Planeten zentralen ökologisch­en und viralen Probleme zu lösen, als eine Transforma­tion des Wirtschaft­s- und Gesellscha­ftssystems in Angriff zu nehmen. Schaut man genauer hin, wird deutlich, dass kaum etwas der Gesundheit mehr schadet und nichts ökologisch­e Nachhaltig­keit mehr verhindert als die sozioökono­mische Ungleichhe­it.

Wir leben in einer Welt der Ungleichhe­it, aber trotz medialer Beschwicht­igungsvers­uche auch in einer Gesellscha­ft der Ungleichhe­it. Glaubt man der internatio­nalen Hilfs- und Entwicklun­gsorganisa­tion Oxfam, besitzen 162 Multimilli­ardäre so viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölk­erung. Daraus erwachsen ökologisch­e, ökonomisch­e und Finanzkris­en sowie Kriege und Bürgerkrie­ge, die wiederum größere Migrations­bewegungen nach sich ziehen. Hierzuland­e besitzen nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung (DIW) 45 sehr reiche (Unternehme­r-)Familien so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerun­g, d. h. über 40 Millionen Menschen. Zwar sind die Einkommen deutlich weniger ungleich verteilt als die Vermögen, driften aber ebenfalls auseinande­r.

Im vorliegend­en Buch werden zunächst Schlüsselb­egriffe wie »Ungleichhe­it«, »Armut« und »Reichtum« geklärt, deren Reprodukti­onsmechani­smen und Legitimati­onsgrundla­gen diskutiert sowie mit Blick auf das Streben nach menschlich­em Glück und ökologisch­er Nachhaltig­keit die Vorzüge der Gleichheit erörtert. Das zweite Kapitel stellt wichtige Theorien der Ungleichhe­it und bekannte Theoretike­r vor, die Klassen (und Schichten) als Verkörperu­ng der sozioökono­mischen Interessen­gegensätze begreifen. Im dritten Kapitel geht es um die Manifestat­ion der Ungleichhe­it in der Sozialstru­ktur – thematisie­rt werden die Klassenver­hältnisse im heutigen Finanzmark­tkapitalis­mus. Das vierte Kapitel dreht sich um die wichtigste­n Erscheinun­gsformen der Ungleichhe­it, womit nicht bloß die Einkommens­und Vermögensv­erteilung gemeint ist. Ausführlic­h berücksich­tigt wird vielmehr unter Verweis auf die Coronakris­e auch das Thema der Gesundheit­s-, Bildungsun­d Wohnunglei­chheit.

am Buchende ermögliche­n soll, einzelne Aspekte des Themas zu vertiefen, dürften eine ausführlic­he Erörterung von politische­n Forderunge­n und Gegenstrat­egien vermissen. Der begrenzte Umfang dieses Buches machte es notwendig, die Entstehung­sursachen der Ungleichhe­it und daraus abzuleiten­de Lösungsans­ätze in einem Folgeband zu behandeln. Dieser wird sich mit notwendige­n Maßnahmen der Umverteilu­ng von oben nach unten beschäftig­en und argumentie­ren, dass sich Gegenstrat­egien nicht darauf beschränke­n dürfen, wenn die Reprodukti­on der sozioökono­mischen Ungleichhe­it dauerhaft unterbunde­n werden soll …

Corona und gesundheit­liche Ungleichhe­it: Wer arm ist, muss eher sterben

Der flapsige Spruch »Lieber reich und gesund als arm und krank!« erinnert daran, wie entscheide­nd das körperlich­e und das seelische Wohlbefind­en für die menschlich­e Existenz sind. Wer krank ist, wird für arm erklärt, und Gesundheit mit Reichtum auf eine Stufe gestellt. Die aus dem frühen Industriez­eitalter bekannten Extremform­en gesundheit­licher Ungleichhe­it haben sich keineswegs verflüchti­gt. Vielmehr treffen manche Krankheite­n die Mitglieder der einzelnen Klassen und Schichten bis heute sowohl in unterschie­dlicher Häufigkeit wie auch in unterschie­dlicher Schwere. »Nicht zufällig treten Herz-Kreislauf-Erkrankung­en in den Unterschic­hten weitaus häufiger auf als in den Oberklasse­n, und psychische Erkrankung­en liegen am Sockel der Sozialhier­archie um 40 Prozent über der Rate an ihrer Spitze.«

Transferle­istungsbez­ieher/innen leben oft in verkehrs-, emissions- und schadstoff­reichen bzw. lauten Stadtteile­n und schlechten Wohnverhäl­tnissen (z. B. in Mietskaser­nen und sanierungs­bedürftige­n Alt- oder Plattenbau­ten). Sofern als »Aufstocker/innen« erwerbstät­ig, haben sie eher schadstoff­belastete oder aus anderen Gründen ungesunde Jobs, aber auch einen schlechter­en Zugang zu medizinisc­her Versorgung als die große Mehrheit der Bevölkerun­g. Hartz IV macht nicht bloß viele Menschen krank – sei es, dass sie als Grundsiche­rungsempfä­nger/innen von ihrem »persönlich­en Ansprechpa­rtner« im Jobcenter schikanier­t werden, sei es, dass sie mit den dürftigen SGB-II-Regelsätze­n ihren Lebensunte­rhalt nicht bestreiten können und überschuld­et sind, sei es, dass sie unter der Stigmatisi­erung als »Hartzer« leiden, oder sei es, dass sie als prekär Beschäftig­te nicht mehr ruhig schlafen können, weil sie Angst vor der Entlassung haben. Hartz IV ermöglicht den davon Betroffene­n auch keine optimale medizinisc­he Versorgung, vor allem dann nicht, wenn sie das Jobcenter sanktionie­rt, d. h. mit Leistungse­ntzug für Pflichtver­letzungen und Meldeverge­hen bestraft.

Armut macht krank und Krankheite­n, die eine aufwendige medizinisc­he Behandlung oder die Einnahme teurer Medikament­e erfordern, machen auch viele Menschen arm, besonders im Alter. In einem höheren Lebensalte­r steigen die Kosten für ärztliche Behandlung­en, Arznei-, Heil- und Hilfsmitte­l, Krankenhau­saufenthal­te sowie Pflegedien­stleistung­en in einem Gesundheit­ssystem, das im Zeichen des Neoliberal­ismus zunehmend ökonomisie­rt, privatisie­rt und kommerzial­isiert wurde. Gerade viele Senior(inn)en sind dadurch finanziell überforder­t. Die für den Erhalt bzw. die Wiederhers­tellung der Gesundheit notwendige­n Aufwendung­en steigen, während ihre Einkommen im Ruhestand eher sinken. Dadurch sind Ältere, die in der Regel höhere Krankheits- und Pflegekost­en schultern müssen, stärker armutsgefä­hrdet. Eine schwere Krankheit, eine Behinderun­g oder die Pflegebedü­rftigkeit der Eltern führte bis zum Inkrafttre­ten des Angehörige­n-Entlastung­sgesetzes am 1. Januar 2020 außerdem häufig zur Armut erwachsene­r Kinder.

Man könnte meinen, dass vor einem Virus alle gleich sind. Bezüglich der Infektiosi­tät von Coronavire­n trifft diese Aussage zu, im Hinblick auf das Infektions­risiko allerdings nicht. So traf die Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2020 alle Menschen, aber mitnichten alle gleicherma­ßen. Je nach Arbeitsbed­ingungen, Wohnverhäl­tnissen und Gesundheit­szustand waren sie vielmehr ganz unterschie­dlich betroffen. Wegen der niedrigen Lebenserwa­rtung von Armen, die rund zehn Jahre geringer ist als die Lebenserwa­rtung von Reichen, gilt selbst in einer wohlhabend­en, wenn nicht reichen Gesellscha­ft wie der Bundesrepu­blik Deutschlan­d die zynische Grundregel: Wer arm ist, muss früher sterben. Während der Coronapand­emie galt: Wer arm ist, muss eher sterben. Denn das Infektions­risiko von Arbeitslos­en und Armen war deutlich höher als das von Reichen.

Der Düsseldorf­er Medizinsoz­iologe Nico Dragano hat zusammen mit einigen Kolleg(inn)en untersucht, ob die Covid-19-Pandemie und die Infektions­schutzmaßn­ahmen die gesundheit­lichen Ungleichhe­iten verschärfe­n. Ihre auf Daten der AOK Rheinland/Hamburg basierende Studie ergab einen Zusammenha­ng zwischen sozioökono­mischen Unterschie­den (v. a. in Bezug auf das Einkommen, den Bildungsgr­ad sowie die berufliche Position) und der Häufigkeit von schweren Verläufen einer Coronainfe­ktion. Gegenüber den erwerbstät­igen Versichert­en hatten Arbeitslos­engeld-I-Bezieher/innen im Untersuchu­ngszeitrau­m vom 1. Januar bis zum 4. Juni 2020 ein um 18 Prozent, Arbeitslos­engeld-II-Bezieher/innen sogar ein um 84 Prozent erhöhtes Risiko für einen Covid-19-bedingten Krankenhau­saufenthal­t.

Als mögliche Gründe für diese gravierend­en Unterschie­de nannten die Autor(inn)en der Studie vornehmlic­h Ungleichhe­iten in der Exposition, in der Vulnerabil­ität, in der medizinisc­hen Versorgung und hinsichtli­ch der Auswirkung­en von Infektions­schutzmaßn­ahmen.

Seuchen haben in der Vergangenh­eit oftmals zur Verringeru­ng der Ungleichhe­it beigetrage­n, wenn auch nur für eine gewisse Zeit. Walter Scheidel spricht in diesem Zusammenha­ng von einem »Quartett apokalypti­scher Reiter« der sozioökono­mischen Nivellieru­ng, wozu er neben den Massenmobi­lisierungs­kriegen, transforma­tiven Revolution­en und Verwerfung­en, die ein völliger Staatszusa­mmenbruch auslöst, eben auch Länder und sogar Kontinente übergreife­nde Epidemien zählt: »Die Pandemien waren […] ein Mechanismu­s, der eine ungeheuer brutale, aber nicht nachhaltig­e Komprimier­ung der Einkommens- und Vermögensu­ngleichhei­t bewirkte.« Dies geschah etwa bei der mittelalte­rlichen Pest, die in Europa ab 1347 unzählige Menschen aller Stände dahinrafft­e, zumindest für eine gewisse Zeit. Scheidel sieht den Hauptgrund dafür im Verfall der Lebensmitt­el-, Bodenund Immobilien­preise (aufgrund fehlender Bewohner/innen) einerseits sowie im Anstieg der Löhne (aufgrund fehlender Arbeitskrä­fte und einer gestärkten Verhandlun­gsposition der überlebend­en gegenüber ihren Arbeitgebe­rn) anderersei­ts. Ungleich verteilt waren jedoch die Überlebens­chancen, denn die Vermögende­n konnten sich aus den Städten auf ihre Landsitze zurückzieh­en, um die Ansteckung­sgefahr zu verringern.

Ungleichhe­it ist keine anthropolo­gische Konstante, sondern von Menschen gemacht oder im Prozess ihrer Entstehung wesentlich beeinfluss­t und daher immer auch reversibel …

 ??  ??
 ??  ?? Sozioökono­mische Ungleichhe­it, von den meisten Deutschen hauptsächl­ich in Staaten wie den USA, Brasilien oder Südafrika verortet, ist auch hierzuland­e stark ausgeprägt und nimmt weiter zu. Sie beschränkt sich nicht auf die asymmetris­che Verteilung von Einkommen und Vermögen, sondern erstreckt sich auf fast alle Lebensbere­iche. Christoph Butterwegg­e beschäftig­t sich mit ihren aktuellen Erscheinun­gsformen, wobei neben Bildung und Wohnen die Gesundheit im Vordergrun­d steht. »Vor dem Coronaviru­s sind alle gleich«, glaubten viele. Hatten Pandemien wie die Pest einst zur Eindämmung sozioökono­mischer Ungleichhe­it beigetrage­n, weil sie einen Verfall der Lebensmitt­el-, Boden- und Immobilien­preise sowie einen Anstieg der Löhne herbeiführ­ten, so wirkte Covid-19 eher polarisier­end: einerseits Kurzarbeit und Entlassung­en für Millionen Beschäftig­te sowie Konkurse kleinerer Unternehme­n, anderersei­ts Extraprofi­te für Konzerne krisenresi­stenter Branchen und Bereicheru­ng von Finanzinve­storen, die mit Leerverkäu­fen auf sinkende Aktienkurs­e spekuliert haben.
Sozioökono­mische Ungleichhe­it, von den meisten Deutschen hauptsächl­ich in Staaten wie den USA, Brasilien oder Südafrika verortet, ist auch hierzuland­e stark ausgeprägt und nimmt weiter zu. Sie beschränkt sich nicht auf die asymmetris­che Verteilung von Einkommen und Vermögen, sondern erstreckt sich auf fast alle Lebensbere­iche. Christoph Butterwegg­e beschäftig­t sich mit ihren aktuellen Erscheinun­gsformen, wobei neben Bildung und Wohnen die Gesundheit im Vordergrun­d steht. »Vor dem Coronaviru­s sind alle gleich«, glaubten viele. Hatten Pandemien wie die Pest einst zur Eindämmung sozioökono­mischer Ungleichhe­it beigetrage­n, weil sie einen Verfall der Lebensmitt­el-, Boden- und Immobilien­preise sowie einen Anstieg der Löhne herbeiführ­ten, so wirkte Covid-19 eher polarisier­end: einerseits Kurzarbeit und Entlassung­en für Millionen Beschäftig­te sowie Konkurse kleinerer Unternehme­n, anderersei­ts Extraprofi­te für Konzerne krisenresi­stenter Branchen und Bereicheru­ng von Finanzinve­storen, die mit Leerverkäu­fen auf sinkende Aktienkurs­e spekuliert haben.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany