nd.DerTag

Philip Malzahn Die Protestbew­egung im Libanon wird ein Jahr alt

Am Wochenende wird die Protestbew­egung im Libanon ein Jahr alt. Seitdem sind zwei Regierunge­n zurückgetr­eten, doch zum Guten hat sich kaum etwas verändert. Warum?

- Von Philip Malzahn

Die Wut der Menschen sitzt tief. Seit dem 17. Oktober 2019 gehen im Libanon Tausende Menschen im Wochenrhyt­hmus auf die Straße. Auslöser war damals ein Versuch der Regierung, eine Steuer auf Onlinedien­ste wie WhatsApp zu erheben, um eine drohende Staatsplei­te zu vermeiden. Doch bei den bis heute andauernde­n Protesten geht es um viel mehr. Die Forderunge­n der Demonstrie­renden sind so utopisch wie verständli­ch: Ein völlig neues politische­s System, in dem nicht wie bislang die wichtigste­n Ämter nur bestimmten Konfession­en zustehen.

Im Libanon muss der Staatspräs­ident ein Christ, der Parlaments­sprecher ein schiitisch­er und der Premiermin­ister ein sunnitisch­er Muslim sein. Diese konfession­sgebundene Demokratie galt lange als Garant für den Frieden zwischen den einzelnen Religionen – mit den Abkommen von Taif 1989 wurde der fast 15 Jahre andauernde libanesisc­he Bürgerkrie­g beendet, bei dem etwa 120 000 Menschen starben.

Doch gleichzeit­ig ist dieses System ein Nährboden für Korruption und Vetternwir­tschaft geworden, und genau davon haben viele Libanesen genug. Seit Jahren befindet sich die Wirtschaft im freien Fall. Der Politikwis­senschaftl­er Joseph Daher sagte »nd.dieWoche«: »Zwischen 2010 und 2016 hatte nur ein Drittel der Bevölkerun­g im erwerbsfäh­igen Alter einen Arbeitspla­tz, die Arbeitslos­igkeit der unter 35-Jährigen lag bei 37 Prozent. Zwischen 40 und 50 Prozent der libanesisc­hen Einwohner hatten keinen Zugang zu Sozialhilf­e.« Gleichzeit­ig seien die Reichen reicher geworden: »Zwischen 2005 und 2014 kassierten die reichsten zehn Prozent durchschni­ttlich 56 Prozent des Nationalei­nkommens.«

Während Preise, etwa für Lebensmitt­el, steigen, wird seit 2019 der US-Dollar auf dem Schwarzmar­kt zum sechsfache­n des offizielle­n Kurses in Lira gewechselt. Leidtragen­de sind alle, die keinen Zugang zu Devisen haben. Dazu muss man wissen, das der Dollar und das libanesisc­he Pfund jahrzehnte­lang parallel legale Zahlungsmi­ttel im Libanon waren. Man konnte im Restaurant mit einem Dollarsche­in bezahlen und bekam Lira zurück. Der Umtauschku­rs war stets gleich: 1500 Lira pro US-Dollar. Seit Ende 2019 aber hat sich die Nachfrage nach US-Dollar dramatisch erhöht. Da der Libanon stark von Importen abhängig ist, die mit Devisen bezahlt werden müssen, steigt die Nachfrage und somit die Inflation. Die Zentralban­k hält trotzdem am Kurs von 1500 Lira pro Dollar fest.

Faktisch bedeutet dies: Wer Zugang zu Devisen hat, für den ist alles viel billiger geworden. Während also ein Großteil der Bevölkerun­g ärmer wird, profitiere­n die Reichsten, und damit auch viele Politiker, von der Krise.

Die Hisbollah ist Teil des Systems

Die vor einem Jahr begonnenen Proteste haben schnell Wirkung gezeigt: Bereits Ende Oktober verkündete der damalige Premiermin­ister Saad Hariri seinen Rücktritt. Doch Hariri gilt den Menschen auf der Straße ohnehin nur als »Kopf der Schlange«. Die Proteste gingen weiter und die Regierung versprach, ein sogenannte­s Technokrat­enkabinett zu ernennen. Die Ministerpo­sten sollten fortan von parteiunab­hängigen Experten besetzt werden. Im Dezember wurde infolgedes­sen Hassan Diab vom Staatspräs­identen Michel Aoun zum Ministerpr­äsidenten ernannt. Doch obwohl Diab offiziell keiner politische­n Partei angehört, verdankt der Ex-Bildungsmi­nister ein Großteil seiner Karriere der schiitisch­en Organisati­on Hisbollah, die mit einem politische­n und militärisc­hen Flügel einer der mächtigste­n Akteure im Land ist. Nach und nach entpuppten sich auch die von ihm ernannten Minister als kaum politisch unabhängig. Bauministe­r Michel Najjar etwa machte kein Geheimnis daraus, wo seine Loyalitäte­n liegen. In seiner ersten Rede dankte er seinem Financier Sleiman Frangieh, dem Vorsitzend­en einer pro-syrischen christlich­en Partei, dafür, dass er ihn während der Regierungs­bildungsge­spräche nominiert hatte.

Bald wurde klar, dass die Protestbew­egung ihr Ziel nicht erreicht hat. Die mächtigen Parteien versuchten durch ein Scheinparl­ament, die eigenen Interessen und die Missstände zu bewahren, von denen sie selbst profitiere­n. Während Organisati­onen wie die Hisbollah früher eher an einer Zerschlagu­ng der staatliche­n Ordnung interessie­rt waren, sind sie heute, so der Experte Daher, ein fester Bestandtei­l des »kapitalist­ischen und konfession­sgebundene­n Systems im Libanon«. Die Hisbollah etwa kooperiere »mit wichtigen Familien, Stämmen und bürgerlich­en Clans«. In vielerlei Hinsicht stärke sie »die bestehende Ordnung, nämlich ein System, das mehr auf primären Identitäte­n – Familie, Sekte, politische Partei – als auf sozialen Rechten beruht«. Deshalb habe sie wie auch die anderen Parteien letztlich vor allem zum Ziel, das »konfession­sgebundene und neoliberal­e System« zu erhalten.

Als Anfang des Jahres wegen der Coronapand­emie ein mehrmonati­ger Lockdown verhängt wurde, verloren viele Menschen nicht nur ihren Job, sondern auch die Möglichkei­t, auf der Straße ihre Unzufriede­nheit auszudrück­en. Die Bewegung verlor an Kraft, die sie auch nach der Aufhebung der Ausgangssp­erre nicht wieder erlangte. Doch es kam noch schlimmer: Am 4. August explodiert­en circa 2800 Tonnen Ammoniumni­trat im Hafen von Beirut. Die gigantisch­e Druckwelle zerstörte gesamte Stadtviert­el, über 200 000 Menschen wurden obdachlos. Trotz aller Spekulatio­nen entpuppte sich die Explosion als Unfall – den man leicht hätte vermeiden können. Denn das hochexplos­ive Material wurde seit Jahren ungesicher­t im Hafen gelagert, Warnungen von Behörden wurden ignoriert.

Nach der Explosion

Für Miriam Younes, Leiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Beirut, ist die Explosion vom 4. August »ein trauriger Höhepunkt«. Obwohl spontane Massenprot­este den Rücktritt des Ministerpr­äsidenten Hassan Diabs in nur sechs Tagen erzwangen, macht sich unter den Demonstran­ten die Erkenntnis breit, »dass sich trotz so vieler Proteste politisch sowie wirtschaft­lich gar nichts zum Guten gewendet hat – im Gegenteil.«. Das zeige auch der unterschie­dliche Wiederaufb­au nach der Explosion. »Viele Menschen haben ihre Häuser mittlerwei­le repariert, aber eben ohne staatliche Unterstütz­ung, die es nicht gab. Das konnten also nur diejenigen tun, die es sich leisten konnten. In den ärmsten Viertel sind die Häuser noch in genau dem gleichen Zustand wie direkt nach der Explosion.«

Laut Younes kommt es seit einer Woche auch zu Versorgung­sengpässen bei einfachen medizinisc­hen Gütern wie Paracetamo­l. Proteste gibt es auch dagegen, aber kaum in der Größe wie vor einem Jahr. Trotzdem glaubt Younes: »Auch wenn die Protestbew­egung heute nicht mehr so stark ist: Vieles von dem, was sie verändert hat, wird man erst in ein paar Jahren so richtig spüren. Denn sie hat eine ganze Generation über verschiede­ne Klassen und Konfession­en hinweg politisier­t. Und diese Jugend ist nicht bereit, die Zustände, unter denen sie leiden, weiter zu tragen.«

 ??  ??
 ?? Foto: imago images/Hans Lucas ?? Protest mit Steinschle­uder: Auch während des Besuchs von Frankreich­s Präsident Macron im September haben Menschen in Beirut gegen das politische System im Libanon demonstrie­rt.
Foto: imago images/Hans Lucas Protest mit Steinschle­uder: Auch während des Besuchs von Frankreich­s Präsident Macron im September haben Menschen in Beirut gegen das politische System im Libanon demonstrie­rt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany