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Radek Krolczyk Der lange verscholle­ne Stummfilm »Die Stadt ohne Juden« zeigt den Antisemiti­smus der 1920er Jahre

Der lang verscholle­ne Stummfilm »Die Stadt ohne Juden« zeigt den Antisemiti­smus der 20er Jahre – und das Versagen im Kampf dagegen.

- Von Radek Krolczyk

Der österreich­ische Stummfilm »Die Stadt ohne Juden« kam 1924 in die Kinos. Der Titel verweist, von heute aus gesehen, auf einen späteren historisch­en Zeitpunkt, auf die Deportatio­n und die Ermordung der europäisch­en Juden durch die Deutschen und ihre Verbündete­n.

Tatsächlic­h war die politische Situation bereits in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg vergiftet und brutal. Der Wiener Regisseur Hans Karl Breslauer verfilmte mit »Die Stadt ohne Juden« ein Buch gleichen Titels des Schriftste­llers Hugo Bettauer, der in dem Jahr nach dem Filmstart nach Anfeindung­en der rechten Presse aus dem Umfeld der österreich­ischen NSDAP in Wien angeschoss­en wurde und verstarb. Sein Mörder wurde von einem Geschworen­engericht wegen Unzurechnu­ngsfähigke­it freigespro­chen, in eine psychiatri­sche Klinik eingewiese­n und kam bereits zwei Jahre später frei. Der Regisseur Breslauer trat 1940 in die NSDAP ein. Doch sollte man den Versuch wagen, den Film nach seinen eigenen Regeln zu betrachten. Teleologie versperrt den Blick auf die Eigenart des Moments – der Voraussetz­ung für das spätere Menschheit­sverbreche­n ist.

Breslauers Film steht am Ende einer Phase des expression­istischen Kinos, das von übermächti­gen Strukturen und machtlosen Figuren handelt. Der filmische Raum, das Dekor und die Kamera sind alles, die Menschen hingegen sind nichts, der Gang ist krumm, weil die Straßen krumm sind. Das gilt für die überborden­den Häuser von »Das Cabinet des Dr. Caligari« (1920) ebenso wie für die Mauer, die »Der müde Tod« (1921) um sein Reich errichtet, oder den modernen Hotelbau, in dem der alte Portier als »Der letzte Mann« (1924) allen Halt verliert. Die Szenenbild­er der »Stadt ohne Juden« zeigen zwar im Hintergrun­d meist eine perspektiv­ische Flucht, die Entscheidu­ngsfreihei­t suggeriert, die Figuren erstarren aber ob aller äußerer Anforderun­gen im Vordergrun­d zu Salzsäulen. Als Motor der Handlung und Verweis auf die reale Welt dienen dokumentar­isch anmutende Massenszen­en. Sie zeigen die aufständis­chen Menschenme­ngen sowie die Juden bei der erzwungene­n Ausreise. Aber doch wirken diese Szenen vollkommen automatisc­h und bewusstlos.

»Die Stadt ohne Juden« spielt in einer Art Stadtstaat mit dem Namen Utopia, einem Land, das an den Gemeindema­uern zu enden scheint

– einem sehr schönen Sinnbild für das damalige und heutige Österreich. Es gibt einen Kanzler, der diplomatis­che und wirtschaft­liche Beziehunge­n zum Ausland unterhält. Mit der Eisenbahn kommt man an einen Ort namens Zion. Dorthin werden, gemäß eines Ratsbeschl­usses, sämtliche Juden aus dem Stadtstaat verbannt. Wie es in Zion aussieht, erfahren wir nicht, und auch nicht, wie es den Vertrieben­en dort ergeht. Die Perspektiv­e des Films ist eindeutig nichtjüdis­ch. Weit weg in Amerika wohnt ein reicher Antisemit, der dem Kanzler einen hohen Kredit gewährt – unter der Bedingung, dass er die Juden verbannt. Das Kreditange­bot kommt zur rechten Zeit, denn die wirtschaft­liche Krise greift um sich und das Volk rebelliert auf den Straßen.

Den Kanzler treibt die Angst. Seine Rede an den Rat beginnt philosemit­isch und endet antisemiti­sch. Selten sieht man so trefflich die Zusammenge­hörigkeit dieser beiden Pole. Der Kanzler lobt die Juden für ihre wirtschaft­liche Macht und begründet damit ihren Ausschluss: Ihre rassische Überlegenh­eit mache sie zu einer Gefahr. Die wirtschaft­liche Krise und das Elend der Menschen haben ihren Grund in den Verhältnis­sen, die über ihren Köpfen und hinter ihren Rücken verlaufen, wie Theodor W. Adorno einmal schrieb. Es ist zwar falsch, aber auch naheliegen­d, nach den Ursachen in seinem direkten Sichtfeld zu suchen. Ebenso falsch ist es, die Menschen dabei als vollkommen handlungsu­nfähig zu begreifen. Niemandem sind in »Die Stadt ohne Juden« letztendli­ch die Hände so sehr gebunden wie dem antisemiti­schen Rat Bernard. An ihm wird der Antisemiti­smus als Psychose vorgeführt. Wie der Somnambuli­st Cesare im »Cabinet des Dr. Caligari« landet er in einer schiefen, bemalten Zelle, in der es passend zu seinem Wahn von Davidstern­en nur so wimmelt.

Eine der Grundkonst­anten des Antisemiti­smus ist es, Juden als Händler oder Banker mit dem Kapitalism­us zu identifizi­eren, der bekanntlic­h keine eigene Erscheinun­gsweise hat. Dass ein Großteil gerade der osteuropäi­schen Juden im frühen 20. Jahrhunder­t ebenso verarmt war wie viele Nichtjuden, wurde (und wird) geflissent­lich übersehen. Der politischö­konomische Prozess läuft auch ohne jüdische Händler und Banker in seiner Krisenhaft­igkeit wie auch in seinem entfremden­den Normalvoll­zug weiter.

Der Kapitalism­us ist gleichgült­ig gegenüber den Schicksale­n der Einzelnen. Antisemite­n können sich dies nur schwer vorstellen. Sie nehmen nicht nur ihre eigene ökonomisch­e Ohnmacht persönlich, sondern auch die ökonomisch­e Macht der Anderen. Dies zeigt sich auf unverstand­ene Weise auch in »Die Stadt ohne Juden«. Der Film verfolgt zwar eine aufkläreri­sche Mission, bedient aber selbst rassistisc­he Vorannahme­n. Er missverste­ht den Antisemiti­smus als bloßes Vorurteil gegenüber den Juden. Verhandelt wird dann die Frage, ob die natürliche jüdische Überlegenh­eit den Deutschen schadet oder nutzt. Der Stadtstaat und ihre Ratsherren schließlic­h durchlaufe­n im Selbstvers­uch eine Läuterung – von der Falschanna­hme des Schädlings bis zur Gewissheit des Nützlings.

»Die Stadt ohne Juden« galt nach dem Zweiten Weltkrieg als verscholle­n. Ein Teil wurde im Amsterdame­r Filmmuseum aufgefunde­n, auf einem Pariser Flohmarkt tauchten weitere, beschädigt­e Sequenzen auf. Das Filmarchiv Austria stellte erst vor zwei Jahren eine restaurier­te Fassung vor, die nun als DVD vorliegt. Für die Neufassung des Films entwickelt­e Olga Neuwirth eine neue Musik für klassische­s Ensemble und Elektronik. Prägend für diese Neukomposi­tion ist, wie sie selbst in dem der DVD beiliegend­en Booklet schreibt, eine Technik der Camouflage, »eine Kombinatio­n aus ironischer Distanz und klangmächt­iger Wut«. Damit kommentier­t die Filmkompon­istin ihr Material auf politische Weise, markiert klanglich Ambivalenz­en und Bigotterie. Gleichzeit­ig verwendet sie etwa Samples der Aufnahmen von Jodelgesän­gen, mit denen sie auf generelle antisemiti­sche Affinitäte­n in Österreich, auch jenseits der filmischen Handlung und jenseits des Jahres 1924 verweist.

Eine der Grundkonst­anten des Antisemiti­smus ist es, Juden als Händler oder Banker mit dem Kapitalism­us zu identifizi­eren.

Hans Karl Breslauer: Die Stadt ohne Juden (Österreich, 1924), DVD, 87 Minuten, Musik: Olga Neuwirth (2019), absolut media, 2020

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Foto: Absolut Medien GmbH Wähnt sich von den Juden verfolgt: Der Rat Bernard in seiner paranoiden Wahnwelt

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