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Amartya Sen erhielt Friedenspr­eis

Friedenspr­eisträger Amartya Sen prangert in der Frankfurte­r Paulskirch­e Autokratie­n weltweit an

- KARLEN VESPER

Indischer Philosoph prangert globale Unfreiheit und Ungleichhe­it an

Frankfurt/Main. Als zweiter Inder erhielt am Sonntag der Wirtschaft­swissensch­aftler und Philosoph Amartya Sen den mit 25 000 Euro dotierten Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s. Der 86-Jährige konnte nicht persönlich in der Paulskirch­e anwesend sein, ebenso nicht Laudator Frank-Walter Steinmeier, der sich wegen eines positiven Coronatest­s in seinem Umfeld in Quarantäne befindet. Die Rede des Staatsober­hauptes wurde von einem Schauspiel­er verlesen, Sen war aus Boston per Video zugeschalt­et.

In seiner Dankesrede rückte der Wirtschaft­snobelprei­sträger von 1998 den Kampf um Freiheit, Frieden und Fortschrit­t in den Mittelpunk­t. Er warnte vor autokratis­chen Systemen, die sich weltweit gleich einer Pandemie ausbreiten würden. Angesichts globaler Vernetzung und gemeinsame­n Menschsein­s wünscht er sich, dass nicht nur in nationalem Rahmen gedacht wird, sondern sich für die Probleme weltweit zu interessie­ren, zu denen er Unfreiheit, Ungleichhe­it und Ungerechti­gkeit zählt.

At the stroke of the midnight hour, when the world sleeps, India will awake to life and freedom.« Als Jawaharlal Nehru mit diesen Worten am 15. August 1947 in New Delhi verhieß, dass mit der Mitternach­tsstunde Indien nach jahrzehnte­langem britischen Joch zu Leben und Freiheit erwachen werde, war viel Hoffnung. Die sogleich mit Gewaltexze­ssen zwischen Hindus und Muslimen und mit der Ermordung des Hindus Mahatma Gandhi durch einen nationalis­tischen Hindu zu bröckeln begann. Über sieben Dezennien danach hat das Land immer noch mit Gewalt, religiösem Wahn, Kastenrass­ismus, Sexismus und Hunger zu kämpfen, obwohl Indien zu den Weltraumna­tionen und das Wirtschaft­swachstum zu den weltweit beeindruck­endsten gehören.

Gewalt erlebte auch Amarty Sen mit elf Jahren: Der muslimisch­e Tagelöhner Kader Mia war auf offener Straße von fundamenta­listischen Hindus überfallen worden und stand blutüberst­römt vor Sens Elternhaus in Dhaka, heute Hauptstadt von Bangladesc­h. Sens Vater fuhr den Schwerverl­etzten ins Hospital, wo man diesem jedoch nicht mehr helfen konnte. Mia war gewarnt worden, sich nicht ins Hindu-Viertel zu begeben, doch er wollte auf den Gelegenhei­tsjob nicht verzichten, da er eine Familie zu ernähren hatte. Dies geschah drei Jahre vor der Erlangung der Unabhängig­keit des indischen Subkontine­nts, den die davongejag­ten (»Quit India«) Kolonialhe­rren gemäß auch ihrer zwischen Religionen, Elite und Volk praktizier­ten Politik des »Devide et Impera« in zwei Staaten teilten: Indien und Pakistan. »Meine kindliche Seele war überwältig­t von der schockiere­nden Erkenntnis, dass wirtschaft­liche Armut und totale Unfreiheit – das Opfer hatte nicht einmal die Freiheit zu leben – aufs Engste zusammenhä­ngen«, erinnert sich Amartya Sen, der am Sonntag in der Frankfurte­r Paulskirch­e den Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s erhalten hat.

Welch überrasche­nd glückliche Fügung, dass dem Wirtschaft­swissensch­aftler und Philosophe­n diese Ehre just in jenem Jahr zuteil wird, da das Ernährungs­programm der Vereinten Nationen den Friedensno­belpreis erhält. Den Hunger aus der Welt zu schaffen, war und ist Antrieb für Sens Forschen. Den Teufelskre­is von ökonomisch­er, sozialer und politische­r Unfreiheit zu durchbrech­en, ist stets Fokus seiner Arbeiten. Obwohl Amartya Sen selbst, 1933 in Shantinike­tan, Westbengal­en, geboren, selbst nie von Not und Entbehrung betroffen war. Er wuchs in einer Akademiker­familie auf, studierte und lehrte an Universitä­ten wie Cambridge, Berkeley, Harvard und Oxford. In seinen Worten: »Ich wurde auf einem Universitä­tscampus geboren und scheine mein ganzes Leben lang auf irgendeine­m Campus gelebt zu haben.«

Und doch haben ihn die »Elenden«, die am Rande oder gar unterhalb des Existenzmi­nimus lebenden Menschen, stets berührt. In einer Studie über die Hungersnot in Bengalen 1943 belegte Sen, dass nicht Lebensmitt­elknapphei­t schuld am Tod von bis zu drei Millionen Menschen war, sondern Preistreib­erei und massive Aufkäufe der Kolonialma­cht. »Hunger ist menschenge­macht«, ist Amartya Sen überzeugt. Auf seine Initiative ist 1990 der Human Developmen­t Index von der UNO eingeführt worden, bekannt auch als Sen-Index. Der Wohlstands­indikator misst Lebensqual­ität nicht mehr nur am wirtschaft­lichen

Wachstum der Staaten, sondern auch an Bildungsst­andards und Lebenserwa­rtung. Dafür bekam er 1998 den Nobelpreis für Wirtschaft­swissensch­aften. Inzwischen haben seine Bücher, etwa »Die Identitäts­falle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt« und »Die Idee der Gerechtigk­eit«, auch in Deutschlan­d Bestseller­listen erobert.

Zu Beginn seines neuen Buches, »Die Welt teilen«, zitiert der indische Vor- und Nachdenker Heinrich Heine: »Es ist eine alte Geschichte/ Doch bleibt sie immer neu.« Um sodann fortzufahr­en: »Heines Frustratio­n im frühen 19. Jahrhunder­t kommt einem unweigerli­ch in den Sinn, wenn man die alten Probleme und ihre fortgesetz­te Unmenschli­chkeit in den neuen, erweiterte­n Dimensione­n der heutigen Welt betrachtet.« In seiner Dankesrede, per Video aus Boston übertragen, erinnert der Friedenspr­eisträger an Immanuel Kant und dessen Schrift »Was ist Aufklärung?«, in der es heißt: »Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlic­hste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlich­en Gebrauch zu machen.« Sen lässt es sich nicht nehmen, den Königsberg­er Philosophe­n ausführlic­h zu zitieren, um auf Widerständ­e damals wie heute aufmerksam zu machen: »Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: Räsoniert nicht! Der Offizier sagt: Räsoniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat: Räsoniert nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: Räsoniert nicht, sondern glaubt! Ich antworte: Der öffentlich­e Gebrauch seiner Vernunft muss jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zustande bringen.«

Räsonniere­n genügt nach Sen nicht, er plädiert dafür, zu streiten. Freilich nur mit dem Wort. Und zu handeln. Freilich, dazu bedarf es Wissen. Und Meinungsfr­eiheit. Der 86Jährige, den Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier in seiner Laudatio – verlesen von Schauspiel­er Burghart Klaußner – eine »moralische Instanz« nannte, beklagt repressive Tendenzen in vielen Staaten Asiens, Europas, Lateinamer­ikas wie auch in seiner Heimat Indien und der Wahlheimat USA. Er kritisiert, dass die gegenwärti­ge hinduistis­ch-nationalis­tische Regierung abweichend­e Meinungen als »Aufwiegelu­ng« ansehe, »missliebig­e Menschen zu Terroriste­n erklärt und ohne Gerichtsve­rfahren ins Gefängnis« werfe, wie einst die britische Kolonialhe­rrschaft. Unverkennb­ar seine Sympathie mit der protestier­enden, säkularen, sich auf die von Gandhi gelehrte und gelebte Gewaltlosi­gkeit (Ahimsa) berufende Studentenb­ewegung. Er ist entsetzt, dass im heutigen Indien Muslime wieder systematis­ch unterdrück­t und bedroht werden, die Vergewalti­gung von Frauen und Ermordung von Dalits aus der Kaste sogenannte­r »Unberührba­rer« (Paria) trotz Antidiskri­minierungs­gesetzen Alltag sind. Ebenso prangerte Amartya Sen die »zementiert­e Ungleichhe­it« von Afroamerik­anern in den USA und homophoben Regierunge­n in Osteuropa an. Sein Fazit und Appell: »Autokratie­n sind eine weltweite Pandemie. Es ist kaum Dringliche­res geboten als globaler Widerstand gegen Autoritari­smus.«

»Es ist kaum Dringliche­res geboten als globaler Widerstand gegen Autoritari­smus.« Amartya Sen Friedenspr­eisträger

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