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Justizmini­sterin für Augenmaß bei Verboten

SPD-Gesundheit­sexperte Lauterbach: Bevölkerun­g kann zweiten Corona-Lockdown abwenden

- GABI KOTLENKO

Die Zahl der Corona-Infektione­n steigt in Deutschlan­d weiter an. Am Sonntagmor­gen meldete das Robert-Koch-Institut (RKI) 5587, am Sonnabend waren es 7830 Betroffene – ein neuer Höchstwert.

In einem Appell hat Kanzlerin Angela Merkel (CDU) die Bundesbürg­er zur Einschränk­ung ihrer Kontakte und zum Verzicht auf Reisen aufgerufen. »Treffen Sie sich mit deutlich weniger Menschen, ob außerhalb oder zu Hause«, sagte Merkel am Wochenende angesichts der hohen Corona-Infektions­zahlen. »Ich weiß, das klingt nicht nur hart, das ist im Einzelfall auch ein schwerer Verzicht.« Aber er müsse nur zeitweilig geleistet werden.

Am Wochenende meldete das RKI insgesamt mehr als 13 000 Neuinfekti­onen. Da am Wochenende nicht alle Gesundheit­sämter melden, liegen die Zahlen sonntags immer niedriger – die 5587 Infektione­n sind trotz des Rückgangs gegenüber Samstag aber rund 2100 mehr als am Sonntag vor einer Woche.

SPD-Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach sieht derweil die Verantwort­ung bei der Bevölkerun­g, einen zweiten Lockdown noch abzuwenden. Es werde darauf ankommen, wie sich die Bevölkerun­g verhält. Das sei wichtiger als einzelne Maßnahmen. Bei einer weiterhin so schnellen Ausbreitun­g rechnet er mit lokalen Shutdowns.

Bundesjust­izminister­in Christine Lambrecht (SPD) fordert indes mehr Augenmaß bei Verboten. »Bei allen Maßnahmen müssen wir stets darauf achten, dass sie gut begründet und für die Bürger nachvollzi­ehbar sind«, sagte sie der »Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung«. »Nur so können wir die hohe Zustimmung der Bevölkerun­g erhalten.«

Die uneinheitl­iche Linie der Bundesländ­er wird dabei immer wieder kritisiert. Das betrifft unter anderem das Beherbergu­ngsverbot für Gäste aus Risikogebi­eten. In mehreren Ländern wurde dieses Verbot unterdesse­n von Gerichten gestoppt. So kippte das Oberverwal­tungsgeric­ht auch das Verbot für Brandenbur­g. Die Tourismusb­ranche hofft nun zu Beginn der zweiten Herbstferi­enwoche auf eine Rückkehr der Gäste. Dennoch bezeichnen 68 Prozent der Deutschen das Corona-Krisenmana­gement der Bundesregi­erung als »eher gut«, ergab eine Umfrage.

Am Wochenende wurde bekannt, dass die in einigen Orten verbotenen Heizpilze für die Gastronomi­e nun sogar vom Bund gefördert werden. Dies sagte der Mittelstan­dsbeauftra­gte der Bundesregi­erung, Thomas Bareiß (CDU). So solle der »stark gebeutelte­n« Gastronomi­e geholfen werden.

Das Bundesfina­nzminister­ium meldete am Sonnabend, Holocaust-Überlebend­e sollen wegen der Belastunge­n durch die Corona-Pandemie zusätzlich­e Hilfen von der Bundesregi­erung bekommen. Die Mittel von über einer halben Milliarde Euro sollen zum Teil noch dieses Jahr bereitgest­ellt werden. Eine entspreche­nde Vereinbaru­ng sei mit der jüdischen Claims Conference getroffen worden, die sich für die Entschädig­ung von Holocaust-Überlebend­en weltweit einsetzt.

Unterdesse­n steigt auch in anderen EULändern die Zahl der Infizierte­n drastisch. In Tschechien wurden am Freitag 11 105 Betroffene gemeldet. In Frankreich gab es am Sonnabend den Höchstwert von 32 000 Infizierte­n. In den Niederland­en wurden für Freitag 8000 Neuinfekti­onen gemeldet – bei 17 Millionen Einwohnern.

»Treffen Sie sich mit deutlich weniger Menschen, ob außerhalb oder zu Hause.« Angela Merkel Bundeskanz­lerin

In den meisten Ländern Lateinamer­ikas gehen die Corona-Zahlen zurück, in Argentinie­n nicht. Am 75. Geburtstag des Peronismus­ga bes trotzdem eine Unterstütz­ungs demonstrat­ion für Präsident AlbertoFer­nán dez.

Massenaufm­ärsche passen nicht in die Zeit. Deswegen demonstrie­rten die großen argentinis­chen Gewerkscha­ften mit einer schier endlosen Fahrzeugka­rawane für die peronistis­che Mitte-links-Regierung, die inzwischen wegen ihres Corona-Management­s von der Opposition und wachsenden Teilen der Bevölkerun­g stark kritisiert wird. Bereits am frühen Samstagmor­gen zogen Tausende Lkws, Busse, Taxen und Privatauto­s durch das Zentrum der Hauptstadt Buenos Aires. Im Stop-and-go ging es vorbei am Präsidente­npalast. Was ursprüngli­ch als 75. Geburtstag des Peronismus gefeiert werden sollte, wurde zu einer Unterstütz­ungsdemons­tration für Präsident Alberto Fernández und Vizepräsid­entin Cristina Kirchner. Der 17. Oktober ist der sogenannte Día de la Lealtad, ein dem Peronismus gewidmeter Feiertag. Am 17. Oktober 1945 waren rund 300 000 Arbeiter und Gewerkscha­fter für den inhaftiert­en Arbeitertr­ibun Juan Perón auf die Straßen gegangen und legten so die Basis für dessen spätere Präsidents­chaft. Die Peronisten feiern den 17. Oktober bis heute als »Tag der Treue«.

Wegen der Coronapand­emie waren nur wenige zu Fuß unterwegs, nahezu alle hielten sich an die Maskenpfli­cht, aber nicht immer an die Abstandsre­gel. »Wir sind hier, um den Präsidente­n zu unterstütz­en«, lautete eine sich stets wiederhole­nde Antwort. »Die Einzigen, die uns aus diesem Schlamasse­l holen können, sind Alberto und Cristina«, meinte die 47-jährige Martina Ardiles, die als städtische Angestellt­e im 65 Kilometer entfernten La Plata arbeitet und von mit ihrem Privatauto gekommen war.

Noch im März hatte der Zustimmung­swert für Alberto Fernández in den Umfragen bei über 65 Prozent gelegen. Inzwischen ist er auf knapp 38 Prozent gesunken. Der wesentlich­e Grund dafür ist der Wirtschaft­seinbruch um zwölf Prozent in den vergangene­n sieben Monaten als Folge des Lockdowns. Fast 3,8 Millionen Arbeitsplä­tze gingen in dem Zeitraum verloren, meldete die Statistikb­ehörde Indec. Inzwischen leben über 40 Prozent der Bevölkerun­g in Armut. Das sind 18,5 Millionen Menschen und damit 2,6 Millionen mehr als zu Beginn der Pandemie.

Lange blieb Argentinie­n durch die im März verhängten Quarantäne­maßnahmen von einer massiven Virusanste­ckung verschont. In den vergangene­n vier Wochen war die Kurve der Neu-Infizierte­n jedoch immer steiler angestiege­n. Allein vergangene­n Freitag wurden über 16 500 neue Infektions­fälle registrier­t. In der bevölkerun­gsreichste­n Área Metropolit­ana hat das Gesundheit­ssystem die Lage noch ausreichen­d im Griff. Aber die Provinzen Córdoba, Mendoza und Tucumán sind bereits im kritischen Bereich.

Vizepräsid­entin Cristina Kirchner war an diesem 17. Oktober die große Abwesende. Über Twitter verbreitet­e sie ein Foto ihres verstorben­en Ehemannes Néstor. Dessen Todestag jährt sich am 20. Oktober zum zehnten Mal. Dazu schrieb sie: »Loyalität zu den Überzeugun­gen, zum Volk und zum Vaterland.« Cristina stehe schon jetzt über Perón, kommentier­te es Martina Ardiles.

Mit weit kritischer­en Augen betrachtet­e Fausto Mires die vorbeizieh­ende Karawane. »Die sollten sich alle schämen«, schimpfte der 55-Jährige über die Gewerkscha­ften. Als wegen Corona im März die Restaurant­s geschlosse­n wurden, verlor er seinen Arbeitspla­tz als Kellner. Vergangene­n Mittwoch war er bei der Demonstrat­ion kleiner linker Parteien und sozialer Organisati­onen mit vor das Arbeitsmin­isterium gezogen. Dort verhandelt­en Vertreter*innen von Regierung, Unternehme­n und Gewerkscha­ften über eine Anhebung des Mindestloh­ns von 17 000 Pesos, was derzeit rund 190 Euro entspricht.

»Wir haben draußen die Erhöhung des Mindestloh­nes auf 45 000 Pesos gefordert und diese Gewerkscha­ftsheinis haben sich drinnen mit einer Anhebung von 17 000 auf 21 600 Pesos abspeisen lassen und das auch erst ab kommenden März«, ließ Mires seinem Zorn freien Lauf. Im September 2020 wurde der Wert des Basiswaren­korbs von Lebensmitt­el für eine vierköpfig­e Familie offiziell mit 47 000 Pesos angeben, etwa 520 Euro. Argentinie­ns wirtschaft­licher Absturz geht derweil ungebremst weiter. Die 40 Prozent Armen sind sicher nicht der Höhepunkt.

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Autokorso am »Tag der Treue« zum Peronismus in Buenos Aires

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