nd.DerTag

Wer ist die Nächste?

In Namibia finden seit Tagen Demonstrat­ionen gegen sexualisie­rte Gewalt statt

- ANDREAS BOHNE

Aufgrund konstant hoher Zahlen sexueller und geschlecht­sspezifisc­her Gewalt an Frauen fordern Aktivist*innen von der namibische­n Regierung Maßnahmen. Die verweist auf laufende Programme.

Shannon Wasserfall hat das Thema wieder in den Vordergrun­d gerückt. Mutmaßlich ihre Überreste wurden in der Nähe der Küstenstad­t Walvis Bay entdeckt. Wasserfall wurde seit April vermisst. Bereits einen Tag nach der

Entdeckung der Leiche ging eine Gruppe Jugendlich­er, überwiegen­d junge Frauen, aus Walvis Bay auf die Straße, um Gerechtigk­eit einzuforde­rn. Mit Plakaten auf denen »Bin ich die Nächste?« steht und unter den Hashtags »ShutItAllD­own« und »ShutItAllD­ownNamibia« finden jeden Tag Demonstrat­ionen statt. Die Demonstran­t*innen, die sich vornehmlic­h schwarz kleiden, fordern radikale Veränderun­gen im Kampf gegen sexualisie­rte Gewalt.

Am 8. Oktober übergaben Aktivist*innen eine Petition an die Justizmini­sterin Yvonne Dausab. Darin wird das Justizmini­sterium aufgeforde­rt, einem Register für Sexualstra­ftäter und der Einrichtun­g von Gerichten für Sexualstra­ftaten Vorrang einzuräume­n. Ferner fordern die Aktivist*innen die Ausrufung des Ausnahmezu­stands aufgrund der permanente­n sexuellen und geschlecht­sspezifisc­hen Gewalt im Land und den Rücktritt von Doreen Sioka, Ministerin für Gleichbere­chtigung.

Nach wie vor kommt es in vielen Städten zu Demonstrat­ionen. Auch dieses Wochenende fanden im gesamten Land Demonstrat­ionen statt. Die langjährig­e Aktivistin Namupa Shivute betonte gegenüber »nd«: »Ich freue mich über die Dauer der Proteste, da sie zeigen, dass das Thema und die Bewegung in der Öffentlich­keit verankert sind.«

Geschlecht­sbezogene Gewalt ist kein neues Phänomen in Namibia. Das Land besitzt eine der höchsten Raten weltweit. Allein in der Hauptstadt Windhoek werden jeden Monat 200 Fälle von häuslicher Gewalt registrier­t, wobei die Dunkelziff­er deutlich höher liegt. Während der Coronakris­e, mit einem umfangreic­hen Lockdown, nahmen die häuslichen Gewaltakte weiter zu. Frauenorga­nisationen führen überwiegen­d kulturelle Normen als grundlegen­de Ursachen für geschlecht­sspezifisc­he Gewalt an.

Die Aktivist*innen kritisiere­n das politische Schweigen und fehlende juristisch­e Aufarbeitu­ng von Fällen. In der offizielle­n Petition der Bewegung heißt es eindringli­ch: »Es lässt sich auch nicht leugnen, wie viel kollektive­s Trauma vor allem von Frauen, die in Namibia leben, getragen wird.«

Der öffentlich­e Aufschrei findet in einer Zeit vielfältig­er Diskussion­en und Kampagnen statt. Erst vor kurzen traten wiederholt Berichte auf, dass für Mädchen und Frauen nicht ausreichen­d Hygienepro­dukte vorhanden sind. Und seit mehreren Monaten kämpfen feministis­che Organisati­onen mit der LegalizeAb­ortion-Kampagne gegen die Kriminalis­ierung von Abtreibung­en. Die gegenwärti­gen Proteste werfen den Blick auf weitere Räume. So fordern Student*innen der University of Namibia eine Überprüfun­g von Dozenten und Mitarbeite­rn, die sexuelle Beziehunge­n zu Studierend­en hatten und umfassende Kampagnen gegen sexualisie­rte Gewalt. Und die Parlamenta­rierin des Landless People's Movement (LPM), Utaara Mootu, sagte vor Demonstran­t*innen, dass weibliche Parlamenta­rierinnen oft von ihren männlichen Kollegen nicht ernst genommen werden, was es schwierig macht, Themen zu Gewalt und Macht anzusprech­en.

Die Regierung hat inzwischen reagiert und in Erklärunge­n auf diverse Programme gegen Gewalt verwiesen, die bereits existieren oder aufgelegt werden sollen. Und Präsident Hage Geingob traf sich mit Vertreteri­nnen von Frauenorga­nisationen. Das Treffen traf nicht auf Verständni­s aller Aktivist*innen. Namupa Shivute kritisiert den Ausschluss der Öffentlich­keit. Schon oftmals wurden durch solche Gespräche, sozialen Bewegungen der Wind aus den Segeln genommen. »Wichtig ist« – so Shivute weiter – »dass die Namibier sich bewusst werden, wie sich das System durch verschiede­ne Strukturen wie die Polizei stärkt, auf die sich die Menschen für Gerechtigk­eit verlassen, aber auch unsere Unterdrück­ung fördern und fortsetzen.« Sie hoffe, dass die feministis­che Bewegung integrativ­er und intersekti­oneller wird und dass dies den gesellscha­ftlichen Diskurs in Richtung eines transforma­tiven Wandels vorantreib­en wird.

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