Wer ist die Nächste?
In Namibia finden seit Tagen Demonstrationen gegen sexualisierte Gewalt statt
Aufgrund konstant hoher Zahlen sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt an Frauen fordern Aktivist*innen von der namibischen Regierung Maßnahmen. Die verweist auf laufende Programme.
Shannon Wasserfall hat das Thema wieder in den Vordergrund gerückt. Mutmaßlich ihre Überreste wurden in der Nähe der Küstenstadt Walvis Bay entdeckt. Wasserfall wurde seit April vermisst. Bereits einen Tag nach der
Entdeckung der Leiche ging eine Gruppe Jugendlicher, überwiegend junge Frauen, aus Walvis Bay auf die Straße, um Gerechtigkeit einzufordern. Mit Plakaten auf denen »Bin ich die Nächste?« steht und unter den Hashtags »ShutItAllDown« und »ShutItAllDownNamibia« finden jeden Tag Demonstrationen statt. Die Demonstrant*innen, die sich vornehmlich schwarz kleiden, fordern radikale Veränderungen im Kampf gegen sexualisierte Gewalt.
Am 8. Oktober übergaben Aktivist*innen eine Petition an die Justizministerin Yvonne Dausab. Darin wird das Justizministerium aufgefordert, einem Register für Sexualstraftäter und der Einrichtung von Gerichten für Sexualstraftaten Vorrang einzuräumen. Ferner fordern die Aktivist*innen die Ausrufung des Ausnahmezustands aufgrund der permanenten sexuellen und geschlechtsspezifischen Gewalt im Land und den Rücktritt von Doreen Sioka, Ministerin für Gleichberechtigung.
Nach wie vor kommt es in vielen Städten zu Demonstrationen. Auch dieses Wochenende fanden im gesamten Land Demonstrationen statt. Die langjährige Aktivistin Namupa Shivute betonte gegenüber »nd«: »Ich freue mich über die Dauer der Proteste, da sie zeigen, dass das Thema und die Bewegung in der Öffentlichkeit verankert sind.«
Geschlechtsbezogene Gewalt ist kein neues Phänomen in Namibia. Das Land besitzt eine der höchsten Raten weltweit. Allein in der Hauptstadt Windhoek werden jeden Monat 200 Fälle von häuslicher Gewalt registriert, wobei die Dunkelziffer deutlich höher liegt. Während der Coronakrise, mit einem umfangreichen Lockdown, nahmen die häuslichen Gewaltakte weiter zu. Frauenorganisationen führen überwiegend kulturelle Normen als grundlegende Ursachen für geschlechtsspezifische Gewalt an.
Die Aktivist*innen kritisieren das politische Schweigen und fehlende juristische Aufarbeitung von Fällen. In der offiziellen Petition der Bewegung heißt es eindringlich: »Es lässt sich auch nicht leugnen, wie viel kollektives Trauma vor allem von Frauen, die in Namibia leben, getragen wird.«
Der öffentliche Aufschrei findet in einer Zeit vielfältiger Diskussionen und Kampagnen statt. Erst vor kurzen traten wiederholt Berichte auf, dass für Mädchen und Frauen nicht ausreichend Hygieneprodukte vorhanden sind. Und seit mehreren Monaten kämpfen feministische Organisationen mit der LegalizeAbortion-Kampagne gegen die Kriminalisierung von Abtreibungen. Die gegenwärtigen Proteste werfen den Blick auf weitere Räume. So fordern Student*innen der University of Namibia eine Überprüfung von Dozenten und Mitarbeitern, die sexuelle Beziehungen zu Studierenden hatten und umfassende Kampagnen gegen sexualisierte Gewalt. Und die Parlamentarierin des Landless People's Movement (LPM), Utaara Mootu, sagte vor Demonstrant*innen, dass weibliche Parlamentarierinnen oft von ihren männlichen Kollegen nicht ernst genommen werden, was es schwierig macht, Themen zu Gewalt und Macht anzusprechen.
Die Regierung hat inzwischen reagiert und in Erklärungen auf diverse Programme gegen Gewalt verwiesen, die bereits existieren oder aufgelegt werden sollen. Und Präsident Hage Geingob traf sich mit Vertreterinnen von Frauenorganisationen. Das Treffen traf nicht auf Verständnis aller Aktivist*innen. Namupa Shivute kritisiert den Ausschluss der Öffentlichkeit. Schon oftmals wurden durch solche Gespräche, sozialen Bewegungen der Wind aus den Segeln genommen. »Wichtig ist« – so Shivute weiter – »dass die Namibier sich bewusst werden, wie sich das System durch verschiedene Strukturen wie die Polizei stärkt, auf die sich die Menschen für Gerechtigkeit verlassen, aber auch unsere Unterdrückung fördern und fortsetzen.« Sie hoffe, dass die feministische Bewegung integrativer und intersektioneller wird und dass dies den gesellschaftlichen Diskurs in Richtung eines transformativen Wandels vorantreiben wird.