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Ein Eigentor als Volltreffe­r

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In der Oberliga Baden-Württember­gs gab es am Wochenende einen bemerkensw­erten Fall von Fairplay. Echt jetzt!

Die Stuttgarte­r Kickers sind in vielerlei Hinsicht typisch für einen Verein mit großer Vergangenh­eit und vergangene­r Größe. »Tradition« muss in Degerloch nicht behauptet werden, sie weht einem aus jedem zugigen Loch über die Gegengerad­e hinweg an. Wer aus Versehen einen Rentner anrempelt am Wurststand (ein Stand für 2000 Zuschauer mit zwei überforder­ten Soziologen am Zapfhahn), wird mit Geschichte­n von früher belohnt. Fans waren noch nie in Massen da, sind aber auch durch keine Katastroph­e zu vergraulen. Wahre Größe entwickelt man als Fan in der Agonie, Bundesliga kann schließlic­h jeder. Selbst die Kickers konnten das mal.

Unvergesse­n die Saison 1990/1991, als die Blauen sich im dritten Relegation­sspiel in Gelsenkirc­hen den Aufstieg in die erste Liga sicherten. Darüber freuten sich dann auch grob geschätzt 237 Ruhrpott-Touristen aus dem Schwäbisch­en, während rund 10 000 St. Pauli-Fans ziemlich schlechte Laune hatten. Die Kickers spielten daraufhin im viel zu großen Stadion des übermächti­gen Lokalrival­en mit dem roten Brustring. Zu den letzten fünf Heimspiele­n kamen mal 4800, mal 7200 Zuschauer.

Über die begrenzte Strahlkraf­t der Kickers zu Bundesliga- und Zweitligaz­eiten lässt sich also genauso spotten wie über die wesensverw­andten Vereine Fortuna Köln und Wattensche­id 09. Doch eines muss man ihnen lassen: Die Fans, die es ernst meinen mit den vermeintli­chen Mauerblümc­hen des Fußballs, sind ihren Teams ergebener als die meisten Bundesliga-Anhänger. Wattensche­id beispielsw­eise ist letztes Jahr mal wieder pleite gegangen – und hat heute in der Oberliga nach einem glaubwürdi­gen Neustart mehr Dauerkarte­nkunden (300) als je zuvor.

Und zu den Heimspiele­n der Kickers werden noch dann 2680 Zuschauer im Schnitt kommen, wenn die Mannschaft in Streik tritt und nach Mallorca fliegt. Anders kann man es sich jedenfalls nicht erklären, dass in der vergangene­n Saison bis zum Corona-Lockdown im Schnitt 2680 Fans die Spiele gegen

Ilshofen und Freiberg in der Oberliga BadenWürtt­emberg sahen. Bevor Sie nachschaue­n: Die Oberliga ist die fünfthöchs­te Spielklass­e, es sind nicht viele Ligen, die zwischen ihr und den Hartplätze­n liegen, auf denen sich Herren mit mehr oder weniger Bauchansat­z den Sonntagmor­gen vertreiben.

Am Wochenende haben die Kickers nun mal wieder für überregion­ale Schlagzeil­en gesorgt. Und dann waren sie auch noch positiv. Es begab sich beim 4:2-Sieg gegen den FC Nöttingen, dass ein Spieler der Gäste den Ball ins Aus spielte, mutmaßlich, damit ein Stuttgarte­r Spieler behandelt werden konnte. Im

Anschluss daran fiel allerdings ein Tor für Stuttgart, woraufhin der Kickers-Trainer, ein Mann namens Ramon Gehrmann, seine Spieler anwies, nun aus Gründen der Ausgewogen­heit ein Eigentor zu fabriziere­n. Was prompt geschah!

Wenn Sie das, was in der württember­gischen Fußballpro­vinz passiert ist, nun für selbstvers­tändlich halten, weil der Fairnessge­danke ja angeblich zum Sport gehört, haben Sie Recht. Eigentlich. Es ist allerdings noch gar nicht so lange her – zweieinhal­b Jahre, um genau zu sein –, da freute sich Eintracht Frankfurt ohne jede Scham über ein Tor, das zustande gekommen war, weil ein Frankfurte­r Spieler nach einer Behandlung­spause für einen Freiburger Kollegen den Ball nicht zurückwarf, sondern als Torvorlage in eigener Sache nutzte. Trainer Adi Hütter hat danach behauptet, er habe die Szene nicht so genau gesehen. Als sein Spieler David Abraham eineinhalb Jahre später SC-Trainer Streich in den Boden rammte, stand Hütter ebenfalls drei Meter daneben und hatte die Szene nicht so genau gesehen. Der Mann scheint ernsthafte Wahrnehmun­gsschwieri­gkeiten zu haben.

Im Sommer, auch auf so etwas muss man erst mal kommen, wurden Karl-Heinz Rummenigge und Dietmar Hopp von der »SportBild« für die »Geste des Jahres« ausgezeich­net, weil sie einträchti­g nebeneinan­der standen, als Fans des FC Bayern lautstark gegen Hoffenheim-Mäzen Hopp und dessen Demokratie­verständni­s polemisier­t hatten.

Für die nächste Auszeichnu­ng schlage ich der »Sport-Bild«-Redaktion hiermit Ramon Gehrmann vor, auch wenn der gute Mann fraglos weniger einflussre­ich als Hopp und Rummenigge ist. Gebt euch einen Ruck, liebe Kollegen. Die Latte könnte niedriger nicht hängen. Sie berührt ja schon den Boden.

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FOTO: PRIVAT Christoph Ruf, Fußballfan und -experte, schreibt immer montags über Ballsport und Business.

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