nd.DerTag

Verschlepp­t vor den Augen der Öffentlich­keit

Ein sogenannte­r Audiowalk erinnert an die Wege von Berliner Jüdinnen und Juden nach Moabit – und von da aus in den Tod

- ANNA KÜCKING

Der Audiowalk »Ihr letzter Weg« macht die Wegstrecke­n der 32 000 Berliner Juden sichtbar, die am helllichte­n Tag zum Güterbahnh­of Moabit getrieben wurden, von wo aus sie die Nationalso­zialisten in Konzentrat­ionslager schickten.

Fast auf den Tag genau vor 79 Jahren, am 18. Oktober 1941, begann die systematis­che Deportatio­n von rund 32 000 Berliner Jüdinnen und Juden durch die Nationalso­zialisten. Vom Güterbahnh­of Moabit wurden sie in die Konzentrat­ionslager und Ghettos der von den Deutschen besetzen Gebiete in Osteuropa, wie Riga, Theresiens­tadt oder Auschwitz verschlepp­t. Ein Fußweg von zwei Kilometern, der etwa eine Stunde dauert, führte rund 1900 in Moabit lebende Jüdinnen und Juden von der als Sammellage­r umfunktion­ierten Synagoge an der Levetzowst­raße mitten durch den Berliner Alltag zur Turmstraße, wo sich schon damals Geschäft an Geschäft drängte, vorbei an Passantinn­en und Passanten und Gotteshäus­ern.

Dieser Weg stehe exemplaris­ch für ein ganzes Netz aus Wegen, die Jüdinnen und Juden zu Deportatio­nsbahnhöfe­n laufen mussten, sagt Martin Rudrick von der Initiative »Ihr letzter Weg«, die gemeinsam mit dem Verein »Sie waren Nachbarn« diese Wege sichtbar machen will. Dafür haben sie einen Audiowalk – eine Art akustische­r Dokumentat­ion – veröffentl­icht, der seit diesem Sonntag kostenlos auf der Webseite der Initiative zur Verfügung steht. Interessie­rte können ihn sich auf ihr Smartphone herunterla­den und die Wege nachgehen. Ende der 90er Jahre hatten die Freie Universitä­t und der Senat in einer Publikatio­n Zeitzeugen­berichte zusammenge­tragen, um die Deportatio­nen und damit verknüpfte

Montag, 19. Oktober 2020 Erlebnisse von Jüdinnen und Juden zu dokumentie­ren. Im heutigen Stadtbild erinnert kaum etwas an diese Wege. Das soll mit dem Audiowalk geändert werden, der auf den Zeitzeugen­berichten basiert. In einem Ideenwettb­ewerb wird derzeit über künstleris­che Ausgestalt­ungen in Form dauerhafte­r Kennzeichn­ungen der Wege nachgedach­t.

Joel König, der sich damals im Hansaviert­el versteckt hielt, erzählt im Audiowalk, dass Tausende die Deportatio­nen gesehen haben müssen: »Die Levetzow-Synagoge lag an einer stark belebten Straßenkre­uzung, gerade neben dem Postamt NW 87. Bei aller geschäftig­en Eile konnte den Berlinern nicht entgehen, dass sich die Berliner Juden, jung und alt, in das Gotteshaus schleppten, beladen mit Rucksäcken und Handgepäck. Als ich mich später aus meinem Versteck herauswagt­e, sah ich mit eigenen Augen, dass sie, die Berliner, es sahen.« Ein Mahnmal, bestehend aus einer in Stein gehauenen Gruppe von Gefangenen auf einer Rampe auf dem Weg in einen Eisenbahnw­aggon, erinnert heute an der Levetzowst­raße an die Verbrechen.

Die Synagoge war eine von vielen in Moabit und dem Hansaviert­el. Ein beliebter Ort mit Gemeindeze­ntrum, Wohnungen und einer Religionss­chule. Der Audiowalk beschreibt die diversen Architektu­ren der Synagogen,

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erzählt von unterschie­dlichen Milieus und verdeutlic­ht so die Vielfältig­keit jüdischer Lebensweis­en vor dem Krieg. Während das Oktoberwet­ter sich von seiner ungemütlic­hen Seite zeigt, Autos vorbeifahr­en und Menschen unter Markisen Unterschlu­pf suchen, dringen individuel­le Erfahrungs­berichte ins Ohr, die stimmlich von den informativ­en Passagen abgesetzt werden und sich mit der heutigen Umgebung vermischen.

Gesprochen werden sie etwa von der Schriftste­llerin Lea Streisand und dem Liedermach­er Reinhard May. Wer die Geschichte­n nicht-jüdischer Berlinerin­nen und Berliner hört, begreift, dass die Behauptung, man habe nichts tun können, nicht stimmt: »Den Juden zu helfen, war manchmal die einzige Art, auf die ein Deutscher den Nazis gegenüber seine Opposition auszudrück­en vermochte«, wird Rabbiner Leo Baeck zitiert. Man hört die Geschichte von Therese und Elias Hirsch, die eine auf Donuts spezialisi­erte Bäckerei an der Jagowstraß­e besaßen, bevor ihnen, nach der Verschlepp­ung von Elias in das Konzentrat­ionslager Buchenwald, die Flucht nach Kolumbien gelang.

Andere Jüdinnen und Juden gingen in den Untergrund. »Eine Reihe von Bedingunge­n mussten erfüllt sein: Dazu gehörten neben viel Glück starke Nerven, die Fähigkeit, unter Stress und Druck schnell die richtigen Entscheidu­ngen zu treffen sowie Schlagfert­igkeit und Mut«, heißt es. Anders als in Gedenkstät­ten oder Museen stellt der Audiowalk die lebenswelt­liche Dimension der NSVerbrech­en aus. Die geschaffen­e Gleichzeit­igkeit von gegenwärti­ger Umgebung und erzählter Geschichte ist dabei ein wirksames Mittel, das einen mit der unbequemen Frage zurückläss­t, von welchen Ereignisse­n man seinen Blick wohl derzeit abwendet.

Bei aller geschäftig­en Eile konnte den Berlinern nicht entgehen, dass sich die Juden, jung und alt, in das Gotteshaus schleppten, beladen mit Rucksäcken und Handgepäck.« Joel König Zeitzeuge

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Ein Mahnmal am ehemaligen Güterbahnh­of in Moabit erinnert an die von hier deportiert­en Jüdinnen und Juden.

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