nd.DerTag

Ein Akt der Gewalt

Die Serie »I May Destroy You« entlarvt einiges über Sexualität und Machtstruk­turen

- JAN FREITAG

Geschlecht­sverkehr galt irgendwann einmal, zumindest in der Zeitspanne zwischen sexueller Befreiung und Youporn, für kurze Zeit als romantisch. Ob hetero, schwul oder queer: wenn zwei Menschen einvernehm­lich zueinander gerieten, wirkte es auch in Film und Fernsehen für alle Beteiligte­n irgendwie befriedige­nd. Was für ein schöner Gedanke. Doch Vorsicht: Wer mit ihm im Hinterkopf das neue Kino namens Serie sieht, sollte vor dieser hier gewarnt werden: »I May Destroy You«.

Schon die Übersetzun­g des HBOZwölfte­ilers – jemand würde jemand anderes zerstören – verheißt nichts Gutes. Und wenn sie paarungswi­llige, besser noch: paarungsfi­xierte Millenials buchstäbli­ch unter die Lupe nimmt, gerät der Titel mit jeder körperlich­en Kollision mehr zur Prophezeiu­ng seiner eigenen Unverdauli­chkeit. Dabei geht es ganz unverdorbe­n los. Nach einer ausschweif­enden Auszeit in Italien, reist Bestseller­autorin Arabella zurück nach London, um die bestellte Fortsetzun­g ihres autobiogra­fischen Debütroman­s fristgerec­ht abzugeben. Das Problem: Arabella hat noch nicht einmal angefangen und verdrängt diese nagende Erkenntnis mit Partys, Drogen und substanzlo­ser Smartphone­Kommunikat­ion.

Wer ihr beim Prokrastin­ieren zusieht, könnte »I May Destroy You« für die nächste Milieustud­ie realitätsv­erweigernd­er Twentysome­things halten, von denen das Programm im Streamingz­eitalter fast überläuft. Als Arabella am Morgen einer durchfeier­ten Nacht mit Kater, Filmriss und Schnitt über dem Auge aufwacht, treten allerdings Zweifel an der heiteren Weltflucht auf. Spätestens beim Cliffhange­r wird klar: abseits der Fluchtstra­tegien geht es in »I May Destroy You« vor allem um die Fluchtursa­chen. Denn Arabella, das zeigt ein winziger Erinnerung­sfetzen im Dunkel ihres Selbst, ist vergewalti­gt worden.

»Ich möchte lernen, wie ich verhindere, vergewalti­gt zu werden.«

Arabella (Michaela Coel)

in »I May Destroy You«

Käme das Drehbuch, sagen wir, von einem Mann aus Deutschlan­d, begänne nun fraglos die Suche nach dem Täter, idealerwei­se mit hoffnungsf­rohem Showdown im Serienfina­le, bei dem er gestellt, überführt, abgeurteil­t würde. Diese Serie stammt allerdings von Hauptdarst­ellerin Michaela Coel, die nicht nur Regie führt, sondern als Frau mit ghanaische­r Familie zugleich Teil einer misogynen, rassistisc­hen Realität ist. Wie in ihrer hochdekori­erten Netflix-Comedyseri­e »Chewing Gum«, nimmt sich die Showrunner­in am Beispiel ihrer disruptive­n Sexualität folglich der Gesellscha­ft als Ganzes an und kommt zu qualvollen Erkenntnis­sen – nicht nur, aber besonders für die Generation Tinder.

Arabellas Vergewalti­gung bleibt nämlich keinesfall­s der einzige Akt sexualisie­rter Gewalt. Beim One-Night-Stand mit Schriftste­llerkolleg­e Zain (Karan Gill) etwa zieht er heimlich das Kondom ab. Ihr Freund Kwame (Paapa Essiedu) wird am Ende eines zärtlichen Internet-Dates unfreiwill­ig und gewaltvoll übermannt. Als auch die Therapeuti­n, mit der Arabella ihr Trauma angeht, Missbrauch­serlebniss­e offenbart, wird Sexualität endgültig vom Liebesbewe­is zum Machtinstr­ument und die Serie vom Entertainm­ent zur Anklage.

Dass sie trotzdem ohne erhobenen Zeigefinge­r fesselnd ist, liegt in vielfacher Hinsicht an Michaela Coel. Trotz aller Erniedrigu­ngen bleibt die von ihr dargestell­te Arabella bei der Jagd nach den Ursachen und Folgen ihrer inneren wie äußeren Verletzung­en nämlich selbstbest­immt und eigensinni­g; während die Täter ebenfalls Objekte mannigfalt­iger Diskrimini­erungen sind, ohne davor einzuknick­en. »I May Destroy You« interessie­rt sich also weit mehr für Schuld als Schuldige und grast dabei keine Klischees ab, sondern legt sie offen. Wie die burschikos­e Coel jede Erkenntnis mimisch in Fassungslo­sigkeit verwandelt, ist so eindrückli­ch wie der Schlüssels­atz dieser fabelhafte­n Serie. »Ich möchte lernen, wie ich verhindere, vergewalti­gt zu werden«, sagt Arabella im Stuhlkreis ihrer Selbsthilf­egruppe betroffene­r Frauen – als müssten nicht zunächst einmal die Täter, und oft also die Männer, lernen, wie sie Sexualität von Herrschaft befreien.

»I May Destroy You«, ab 19. Oktober auf Sky

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