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Die Bücherwand als Werkzeug

Die Bibliothek des Schriftste­llers Stefan Heym ist in Chemnitz öffentlich zugänglich

- HENDRIK LASCH

Das dickste Werk in der Bibliothek von Stefan Heym liegt neben einer Schreibmas­chine der Marke Erika auf dem Schreibtis­ch: A4Format, mächtig wie ein Lexikon, schwarz gebunden. Es ist ein Manuskript des Romans, der erst viele Jahre nach der Niederschr­ift unter dem Titel »Fünf Tage im Juni« veröffentl­icht wurde und die Ereignisse des 17. Juni 1953 in der DDR thematisie­rt. Ihr Mann habe »Regierung und Partei helfen wollen, Widersprüc­he zu erkennen«, sagt Inge Heym, die Witwe des Schriftste­llers. Die Mächtigen wollten davon nichts wissen. »Das konnte er nicht verstehen«, sagt sie nachdenkli­ch: »Von da an gab es ständig Schwierigk­eiten.«

Mittdreißi­ger, die »wissen wollen, wie die DDR wirklich war« (Inge Heym), können dies nun im Stefan-Heym-Forum in Chemnitz erfahren.

Inge Heym steht vor der Bücherwand, die für sie und ihren Mann in 30 Ehe- sowie gemeinsame­n Arbeitsjah­ren ein wichtiges Werkzeug war. Das belegen gelbe Zettel, die als Markierung etwa aus einer Biografie von Karl Radek ragen, über den Heym in den 1990er Jahren einen Roman schrieb. »Wir wussten genau, wo wir hingreifen mussten, wenn wir ein Buch brauchten«, sagt die ehemalige Dramaturgi­n und Drehbuchau­torin. Die Bibliothek war eine Art intellektu­elles Zuhause – das sich nun freilich nicht mehr im Berliner Haus der Heyms befindet. Sie ist vielmehr zentraler Bestandtei­l des StefanHeym-Forums, das jetzt im Chemnitzer Kulturkauf­haus »Tietz« eröffnet wurde.

Heym wurde 1913 in Chemnitz als Helmut Flieg in einer jüdischen Familie geboren; er ging dort zur Schule und eckte schon bei ersten schriftste­llerischen Versuchen an: Das Gedicht »Exportgesc­häft« trug dem 18Jährigen massive Anfeindung­en ein. Er ging kurz darauf nach Berlin und später weiter in die USA. Viele Familienmi­tglieder von ihm überlebten die NS-Diktatur nicht.

1945 kam Heym als Sergeant der US-Armee zu einem Kurzbesuch nach Chemnitz; illegal, wie seine Frau anmerkt. Das Verhältnis zur Geburtssta­dt sei stets ambivalent geblieben, sagt auch die Oberbürger­meisterin Barbara Ludwig. Das änderte sich erst 2001, als Chemnitz den berühmten Sohn zum Ehrenbürge­r ernannte. Kurz darauf verstarb er.

Inzwischen verleiht die Stadt einen Preis, der Heym gewidmet ist; auch ein Platz trägt seinen Namen. Nun wurde Chemnitz, wie es die Rathausche­fin empfindet, eine besondere Ehre zuteil: Inge Heym schenkte der Stadt die Bibliothek des Schriftste­llers. Bürgermeis­terin Ludwig nennt das eine »ganz außergewöh­nlich große Gabe«. Im Kulturkauf­haus, das Volkshochs­chule und städtische Bibliothek beherbergt, wurde sie in einem gläsernen Kubus originalge­treu eingericht­et.

»Ich habe das Gefühl, hier mehr zu Hause zu sein als bei mir«, sagte Inge Heym bei der ersten Besichtigu­ng. Ergänzt wird die Büchersamm­lung nun auch durch eine Ausstellun­g, die Heyms Lebensweg, seine Arbeit als Schriftste­ller und das wechselvol­le Verhältnis zu Staat und Politik nachzeichn­et. Neben Fotos, filmischen und akustische­n Dokumenten finden sich auch Ausstellun­gsstücke wie die für Heym typische Baskenmütz­e oder ein Papier, mit dem ihm das Kulturmini­sterium der DDR 1972 erlaubte, Literatur aus dem westlichen Ausland »in Form von Tausch- oder Geschenkse­ndungen« empfangen zu dürfen.

Vieles davon findet sich nun in den Regalen wieder: 1400 Bände werden im originalen Mobiliar gezeigt, weitere 1000 stehen im Magazin der Stadtbibli­othek. Neben einer historisch­en Gesamtausg­abe von Goethe oder Werken des von Heym geschätzte­n US-Amerikaner­s Mark Twain finden sich Bücher, die Kollegen ihm widmeten; Franz Fühmann etwa übereignet­e ihm 1972 eine Ausgabe seines Buches »Saiäns Fiktschen«, das er freilich als »etwas misslungen­es Büchlein« beschrieb. Den Großteil der Regalmeter füllen Biografien, Essaybände und belletrist­ische Werke, die Heym für Recherchen nutzte; daneben Ausgaben seiner eigenen Werke wie der »König David Bericht«. Er erschien 1972 und wurde, wie groß auf dem Titel zu lesen ist, »verlegt bei Kindler«, also im Westen. Es war Ausdruck der »Schwierigk­eiten«, die Inge Heym erwähnte. Die Hamburger Wochenzeit­ung »Die Zeit« nannte Heym 1970 ein »Ärgernis vom Dienst«; der spätere DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker klagte 1965, Heym sei »offensicht­lich nicht bereit, die Ratschläge, die ihm mehrfach gegeben worden sind, zu beachten«.

Heute ist Stefan Heym als bedeutende­r Schriftste­ller anerkannt und Teil der, wie Bürgermeis­terin Ludwig betont, deutschen, nicht nur ostdeutsch­en Literaturg­eschichte. Chemnitz bietet gute Voraussetz­ungen, diese Rolle und seine Arbeit gründliche­r zu erforschen. Die Bücher in der »Arbeitsbib­liothek« können etwa von Wissenscha­ftlern eingesehen werden; für Schüler und andere Interessie­rte bieten die Chemnitzer StefanHeym-Gesellscha­ft und die Bibliothek Führungen an. Der Bestand wird zusätzlich digital erfasst; die TU Chemnitz bemüht sich bereits um Drittmitte­l für Forschungs­vorhaben, bei denen die Bibliothek eine Rolle spielt. Denn diese sei »ein Spiegel der Zeitgeschi­chte und des 20. Jahrhunder­ts«, so Ludwig. Und diese wiederum, stellt Inge Heym fest, interessie­rt zunehmend auch jüngere Leser: Mittdreißi­ger, die »wissen wollen, wie die DDR wirklich war«. Im Stefan-Heym-Forum in Chemnitz können sie darüber sehr viel erfahren.

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Inge Heym in der Arbeitsbib­liothek – und Stefan Heyms Erika-Schreibmas­chine

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