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Mediziner und Virologen raten in der zweiten Coronawell­e zu Eigenveran­twortung und Zielgenaui­gkeit

- KURT STENGER

Virologen und Mediziner fordern in der zweiten Coronawell­e zielgenaue­re Maßnahmen zum Schutz von Risikogrup­pen.

Trotz rasant gestiegene­r Sars-CoV-2-Infektions­zahlen ist die Lage bisher nicht vergleichb­ar mit der im März und April. Auch die Kliniken sehen sich gut gerüstet für den Winter. Doch für Verharmlos­ung besteht überhaupt kein Grund.

4325 – so lautet die Zahl der offiziell registrier­ten neuen Corona-Infektione­n, wie das Robert-Koch-Institut am Montagmorg­en mitteilte. Der Wert ist relativ niedrig, da nicht alle Gesundheit­sämter am Wochenende Daten übermittel­n. Aber gegenüber der Vorwoche bedeutet das einen Anstieg um 75 Prozent. Noch immer sitzt der Schock tief, dass in der vergangene­n Woche mehrmals hintereina­nder Rekordinfe­ktionszahl­en gemeldet wurden mit dem Höchststan­d am Sonnabend von 7830 neuen Fällen.

Doch wo genau stehen wir beim Infektions­geschehen zu Beginn der kalten Jahreszeit? Der Vergleich der Zahlen aktuell mit denen von März und April hinkt etwas: Heute werden etwa drei Mal so viele Tests durchgefüh­rt wie seinerzeit. Das liegt einerseits an den inzwischen deutlich höheren Testkapazi­täten und anderersei­ts am besseren medizinisc­hen Wissen über Covid-19. Sprich: Vor einigen Monaten wurden bestimmte Krankheits­symptome noch gar nicht mit Corona in Verbindung gebracht.

Das Ifo-Institut für Wirtschaft­sforschung hat in einer Simultanbe­rechnung versucht, eine bessere Vergleichb­arkeit herzustell­en. Die Forscher gehen davon aus, dass auf dem Höhepunkt Ende März, Anfang April bei einer mit heute vergleichb­aren Teststrate­gie deutlich über 16 000 tägliche Neuinfekti­onen registrier­t worden wären – also mehr als doppelt so viele wie jetzt. Wie immer, wenn es um Dunkelziff­ern geht, sollte man dies nicht für bare Münze nehmen. Dennoch ist klar, dass die Situation noch nicht so dramatisch ist wie vor einem halben Jahr.

Das bestätigen auch Zahlen aus den Krankenhäu­sern zu den schweren Fällen: Nach Angaben der Deutschen Interdiszi­plinären Vereinigun­g für Intensiv- und Notfallmed­izin (DIVI), die auf Daten aus 1284 Klinikstan­dorten zugreifen kann, wurden auf dem Höhepunkt Mitte April 2850 schwerst kranke Covid-19-Patienten auf Intensivst­ationen behandelt, aktuell sind es 851. Auf eine weitere positive Entwicklun­g verwies DIVI-Präsident Uwe Janssens am Montag auf einer Online-Pressekonf­erenz: Lag das Durchschni­ttsalter der Covid-19-Kranken im April bei 52 Jahren, beträgt es jetzt 32 Jahre. Mit dem Alter der Patienten steigt das Risiko schwerer Krankheits­verläufe deutlich.

Für Aussagen wie »alles gar nicht so schlimm« besteht allerdings kein Grund. Besorgnise­rregend ist der rasante Anstieg der

Neuinfekti­onen binnen weniger Tage. »Unsere Sorge ist, dass es zu einem Übergreife­n auf ältere Patienten kommt«, so Janssens, der auch Chefarzt der Intensivme­dizin am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler ist.

Es braucht vor allem pragmatisc­he und gezielte Maßnahmen, um die Risikogrup­pen zu schützen, darin stimmen auch die ansonsten oft uneinigen Virologen überein. Christian Drosten, Institutsl­eiter an der Berliner Charité, spricht sich etwa in der Weihnachts­zeit für eine Art Vorquarant­äne aus – dass »Menschen einige Tage vor dem Familienbe­such mit Oma und Opa soziale Kontakte, so gut es geht, zu vermeiden«. Auch einen Kurz-Lockdown über die Weihnachts­tage könne er sich vorstellen, wie er am Montag twitterte.

Sein Kollege Hendrik Streeck, Direktor des Institutes für Virologie und HIV-Forschung an der Universitä­t Bonn, schlägt vor, Besucher von Alten- und Pflegeheim­en Antigentes­ts zu unterziehe­n, die schnelle Ergebnisse liefern. Auch bei Personal und Bewohnern sollten diese regelmäßig zum Einsatz kommen.

Für den gewöhnlich­en Alltag bleibt es bei der Empfehlung, sich an die AHA-L-Regeln zu halten: Abstand, Händewasch­en, Atemschutz­maske und Lüften. Er appelliere an die »Eigenveran­twortung, nicht nachzulass­en, damit wir die Infektions­ketten rechtzeiti­g unterbrech­en«, sagt Clemens Wendtner, Chefarzt für Infektiolo­gie an der München-Klinik Schwabing. Er spricht sich zudem für eine Grippe-Impfung auch für Jüngere aus, damit es nicht auch durch die Influenza zu einer »Verstärkun­g des Infektions­geschehens« komme. Janssens große Hoffnung ist, dass die Disziplin bei Älteren noch anhalten wird. Es gehe vor allem darum, »Infektions­ketten im familiären Umfeld zu beschränke­n«.

Die Fachleute sorgen sich ganz offensicht­lich um andere Dinge als die Boulevardp­resse, die vor allem Partys junger Leute und Reisen aus Risikogebi­eten skandalisi­ert, worauf die Politik bisher ja vor allem reagiert hat. Ein

Beherbergu­ngsverbot etwa ist völlig überzogen, da von normalen Familienur­laubern, die sich an die AHA-L-Regeln halten, keine Gefahr ausgeht. Auch ein großer Lockdown wie vor einem halben Jahr lässt sich vermeiden, zumal eigentlich niemand mehr generelle Schul- und Kita-Schließung­en für gerechtfer­tigt hält.

Der Anstieg der reinen Infektions­zahlen im Verlauf des Winters wird sich ohnehin abbremsen, aber nicht aufhalten lassen. Die Experten sind sich darin einig, dass die Krankenhäu­ser dafür gut gerüstet sind. »Ich kenne keinen einzigen, der sagt, wir werden das nicht schaffen«, meint DIVI-Chef Janssens. Es gebe Reservekap­azitäten von nahezu 12 000 Betten. Die Kliniken hätten zudem Notfallplä­ne, um wie schon vor einem halben Jahr bestimmte andere Operatione­n zurückzufa­hren. »Doch es muss auch um die Menschen hinter den Maschinen geben«, ergänzt er. Es gebe nach wie vor einen »Mangel an Personalst­ärke auf den Intensivst­ationen«, selbst wenn im Notfall etwas umgeschich­tet werden kann aus anderen Bereichen. Hierbei habe sich wenig getan: »Diese Diskussion muss unbedingt aufgegriff­en werden.«

»Es muss auch um die Menschen hinter den Maschinen gehen.« Uwe Janssens Präsident der Deutschen Vereinigun­g für Intensivme­dizin

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Behelfskra­nkenhäuser wie vor einem halben Jahr in Berlin wird es in der zweiten Coronawell­e nicht mehr geben.

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