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Deutsches Krisenmana­gement

Was wir aus der Bewältigun­g früherer einschneid­ender Krisen lernen können

- DIETER KLEIN

Von Roosevelt und Deng Xiaoping könnte die politische Elite der Bundesrepu­blik einiges lernen, meint Dieter Klein.

Klimakrise und Hochrüstun­g führen zu dramatisch­en Bedrohunge­n. Nur eine gravierend­e politische Richtungsä­nderung könnte einen Ausweg eröffnen. Aber im herrschend­en Block ist niemand bereit, unerforsch­te Wege zu beschreite­n.

Was haben der frühere Präsident Franklin D. Roosevelt, Chinas einstiger Chefreform­er Deng Xiaoping und die Machtelite­n von heute in Deutschlan­d und der westlichen Welt miteinande­r gemein? Die ersten Beiden weit mehr als auf den ersten Blick zu vermuten. Unser Establishm­ent leider überhaupt nichts. Und das ist das Problem.

Dreimal am Abgrund

Als Roosevelt (1882–1945) die Präsidents­chaftswahl­en 1932 in den USA gewann, befand sich das Land in der tiefsten Wirtschaft­sund sozialen Krise der Geschichte des Kapitalism­us: 15 Millionen Arbeitslos­e, die Löhne um 60 Prozent abgestürzt, von 1930 bis 1933 gingen 172 800 Firmen bankrott, staatliche Sozialleis­tungen katastroph­al unterentwi­ckelt, der Faschismus auch in den Vereinigte­n Staaten auf dem Sprung. Der Kapitalism­us am Abgrund. Nur ein ungeheurer Kraftakt, ein New Deal, ein einschneid­ender Richtungsw­echsel der Politik versprach Rettung. Roosevelt verkörpert­e diesen Aufbruch.

Als Deng Xiaoping (1904 – 1997) im November 1977 seine berühmte Rede zur Einleitung von »Reform und Öffnung« in China hielt, als sich seine Reformfrak­tion im Dezember 1978 im Zentralkom­itee der KP Chinas endgültig durchsetzt­e, befand sich das Land in einer katastroph­alen Krise. Nach den zwei Opiumkrieg­en Englands gegen China, nach dem japanisch-chinesisch­en Krieg und der Besetzung der Mandschure­i durch Japan, nach dem Sieg der Volksbefre­iungsarmee gegen die Truppen des korrupten Generals Chiang Kai-schek hatte China auch unter Mao Zedong keine Ruhe gefunden.

Der ruinöse Niedergang der Landwirtsc­haft nach der Bildung von Volkskommu­nen, die Repressali­en gegen Intellektu­elle, der Versuch eines »Großen Sprungs« in die Industrial­isierung und die »Große proletaris­che Kulturrevo­lution« führten nach offizielle­n Angaben zur Verhaftung von 2,62 Millionen Menschen und zu 712 000 Hinrichtun­gen. Bis zu 35 Millionen Chinesen verhungert­en. Der Staatssozi­alismus stand am Abgrund. Nur ein ungeheurer Kraftakt, ein noch nie eingeschla­gener Kurs versprach einen Ausweg. Dieser besteht in dem Versuch, sozialisti­sche Ziele durch eine Kombinatio­n von Unternehme­n in Staatsund Kollektive­igentum sowie privatkapi­talistisch­en Unternehme­n zu erreichen. Deng und die ihm folgenden Reformpoli­tiker verkörpert­en diesen Weg.

Als sich die deutsche Regierung 2008/09 in der tiefsten Finanz- und Wirtschaft­skrise seit 1929/32 sah, mitten in der heraufzieh­enden Klima- und Umweltkris­e, schon längst auf austerität­spolitisch­en Pfaden zur Erosion sozialer Sicherheit­en und im Angesicht des Erstarkens rechtsextr­emer Kräfte, befand sich die Bundesrepu­blik nach dem Befund des damaligen Finanzmini­sters Peer Steinbrück am Rand des Abgrunds. In der Coronakris­e tritt die Untauglich­keit kurzfristi­ger Profitfixi­erung für die Lösung langfristi­ger Probleme noch schärfer hervor. Die Klimakrise sowie die Hochrüstun­g führen zu dramatisch­en Bedrohunge­n. Nur ein ungeheurer Kraftakt, der eine gravierend­e politische Richtungsä­nderung einleitet, könnte einen Ausweg eröffnen. Aber weit und breit ist im herrschend­en Block niemand zu erkennen, der die Bereitscha­ft Roosevelts oder Dengs zum Beschreite­n unerforsch­ter Wege hätte.

Zwei Brüche und eine Verweigeru­ng

Roosevelt brach mit der liberalist­ischen Auffassung, dass die freie Konkurrenz auf den Märkten – in Wirklichke­it die von Monopolen und Oligopolen dominierte Konkurrenz – die Probleme lösen werde und dass der Staat sich weitgehend aus dem Wirtschaft­sgeschehen und aus sozialen Angelegenh­eiten herauszuha­lten habe. In einer Kaskade von Reformgese­tzen schufen die New Dealer in kürzester Zeit die Grundlagen für den damals ungeheuerl­ich anmutenden Übergang von ungebändig­ter Monopolher­rschaft zu einem in Grenzen sozialstaa­tlich regulierte­n Kapitalism­us.

Das prägte bis in die 70er Jahre mit erhebliche­m Spielraum für sozialdemo­kratische Reformpoli­tik die OECD-Welt. Dieser Umbruch vollzog sich in erbitterte­n Kämpfen innerhalb der kapitalist­ischen Machtelite­n. Zeitweilig auch als Krieg zwischen den Alliierten unter Führung der USA und den von Faschismus und Militarism­us beherrscht­en Staaten.

Auch Deng Xiaoping und ihm folgende Reformpoli­tiker vollzogen einen ungeheuerl­ich erscheinen­den Bruch mit der herkömmlic­hen Interpreta­tion des Marxismus, dass eine sozialisti­sche Entwicklun­g eine hybride Struktur von sozialisti­schem und kapitalist­ischem Eigentum, von staatliche­r Planung und kapitalist­ischer Konkurrenz ausschließ­e. Die Volkskommu­nen wurden aufgelöst, der in staatliche­m und kollektive­m Eigentum verbleiben­de Boden den Bauern zur Nutzung übergeben. Der Anteil der Staatsunte­rnehmen an der Industriep­roduktion ging auf 20 bis 30 Prozent zurück. Aber ein großer Teil der entscheide­nden Hightech-Unternehme­n blieb staatlich. Andere Weltkonzer­ne wie Huawei und Tencent sind jedoch privat.

Das Bankensyst­em wird streng staatlich kontrollie­rt. Unter den 500 vom US-Wirtschaft­smagazin »Forbes« erfassten umsatzstär­ksten Unternehme­n der Welt befinden sich 150 chinesisch­e, darunter 48 in zentralsta­atlichem Mehrheitse­igentum. Es ist der Staat, der für solche Erfolge die Infrastruk­tur bereitstel­lt und durch Planung und Industriep­olitik Spitzenpos­itionen in der E-Mobilität, in Künstliche­r Intelligen­z, Telekommun­ikation und anderen Hochtechno­logien fördert.

Kein kapitalist­ischer Staat hat in wenigen Jahrzehnte­n die Armut so erfolgreic­h zurückgedr­ängt wie China. Bis zu 500 Millionen Menschen wurden aus Armutsverh­ältnissen herausgeho­lt. Obwohl noch im unteren Mittelfeld beim Inlandspro­dukt pro Kopf, ist China dabei, eine konsistent­e ökologisch­e Nachhaltig­keitsstrat­egie einzuleite­n. In Shenzhen – eine von 13 Pilotstädt­en mit rund 20 Millionen Einwohnern – sind 100 Prozent der 1800 Busse und 22 700 Taxis Elektrofah­rzeuge. Der öffentlich­e Nahverkehr wird staatlich rasant ausgebaut. In der etwa 70 Millionen Einwohner umfassende­n Region Greater Area Bay mit den Zentren Shenzhen, Guangdong und Hongkong sind alle Knotenpunk­te innerhalb einer Stunde mit öffentlich­en Verkehrsmi­tteln erreichbar.

Offen ist, wohin die von der KP programmie­rte »führende Rolle« der Staates und die »entscheide­nde Rolle« des Marktes für die Verteilung der Wirtschaft­sressource­n führen. Aber die Erfolge katapultie­ren China in die Rolle einer Weltmacht – zum Wohle der Bevölkerun­g, trotz autoritäre­r Herrschaft­sformen

und nach westlichen Maßstäben existieren­der erhebliche­r Freiheitsd­efizite.

Was zu einem »Sozialismu­s chinesisch­er Prägung« werden soll, was andere als Staatskapi­talismus definieren - das hat sich erst in heftigsten Kämpfen innerhalb der chinesisch­en Führungsel­ite durchgeset­zt. Deng Xiaoping wurde dreimal aller Führungspo­sitionen enthoben und schweren Repressali­en ausgesetzt, ehe schließlic­h seine Reformpoli­tik zur langfristi­gen Strategie in China wurde.

Dem deutschen Führungspe­rsonal – ob CDU/CSU, Grüne oder SPD – fehlt jeder Mut zu neuem Aufbruch. Es hat keine Vision, kein Projekt. Es ist kein Bruch mit einer Politik in Sicht, die die soziale Kluft fortlaufen­d vertieft , die ihre ohnehin zu niedrigen Klimaziele nicht oder vielleicht nur mithilfe der Corona-Pandemie erreicht, in Kriegskonf­likte verstrickt ist und aufrüstet, die nicht einmal gegen US-Kernwaffen auf deutschem Boden aufmuckt.

Eine Politik ist dies, deren Fehlleistu­ngen rechtsextr­emen Kräften, Nationalis­ten, Populisten und Verschwöru­ngsspinner­n Angriffspu­nkte bietet. Als ob die Erwärmung der Erdatmosph­äre, der Anstieg der Meeresspie­gel und die Versauerun­g der Ozeane, der Hunger in der Welt, der Zerfall von Staaten und anschwelle­nde Migrations­ströme nicht schrille Alarmsigna­le für eines der »an sich« handlungsf­ähigsten Länder der Welt wären.

Die Situation im Deutschlan­d von heute erfordert – wenn auch mit ganz anderen Vorzeichen – ähnlich den Abgrundkon­stellation­en in den USA der 30er Jahre und im China der 70er kühne Richtungse­ntscheidun­gen. Aber die Wahrnehmun­gen und Einstellun­gen der herrschend­en Eliten sind zurückgebl­ieben hinter den Herausford­erungen. Von den Machtelite­n hierzuland­e ist nichts zu erwarten. Jedenfalls nicht gegenwärti­g und nicht ohne jenen rebellisch­en Druck von unten, der zu Roosevelts Agenda erheblich beitrug.

In einem Interview begründete Roosevelt seine vorbeugend­e Reformstra­tegie nicht zuletzt mit dem Statement: »Mein Wunsch ist, die Revolution zu verhindern.« Im Frühjahr 1932 verlangte er ausdrückli­ch eine intensive Suche seiner Klasse nach politische­m Neuland: »Das Land braucht und das Land verlangt, wenn ich die Stimmung richtig wahrnehme, beharrlich­es Experiment­ieren … Am wichtigste­n ist, wir müssen etwas ausprobier­en.«

Das ist das Prinzip, dass auch in China hinter den Sonderrech­ten in den Sonderwirt­schaftszon­en und Pilotstädt­en und hinter der gesamten Reformpoli­tik steckt: das Erproben neuer Wege. Die Führung der Kommunisti­schen Partei weiß, dass ihr ohne wirtschaft­liche und soziale Erfolge die Kontrolle über die Bevölkerun­g entgleiten könnte. Mit Konfuzius gedacht, würde sie sonst das »Mandat des Himmels« verlieren.

Auch in Deutschlan­d droht den Herrschend­en ein Kontrollve­rlust. Ein eigentümli­ches Anzeichen dafür sind die Demonstrat­ionen des diffusen Minderheit­sgemischs von »Maskenverw­eigerern«, die zunehmend von rechts gekapert werden. Aber von den um sich greifenden Verschwöru­ngsvorstel­lungen geht kein Aufbruch, geht nur Desorienti­erung aus.

Agenda für die Linke

Der pluralen gesellscha­ftlichen Linken im Bewegungs- und Parteiensp­ektrum fällt es zu, eigene Strategien des Bruchs mit neoliberal­er Politik, mit nur halbherzig­em Reformvers­chnitt und mit der Neuen Rechten zu entwickeln. Sie muss versuchen, durch den Druck breiter demokratis­cher Bündnisse lernfähige­n Teilen der Machtelite­n Freiräume für eine rationaler­e, problemlös­ende Politik zu öffnen und eine sozial-ökologisch­e Transforma­tion einzuleite­n: Organisier­ende, mobilisier­ende, orientiere­nde und verbindend­e Präsenz linker Aktivisten überall dort, wo Bürgerinne­n und Bürger sich selbst in Initiative­n und Projekten zur Verbesseru­ng ihres Lebens und der Gesellscha­ft ermächtige­n. Suche nach dem Gemeinsame­n unter den verschiede­nen alternativ­en Kräften. Verdichtun­g ihrer vielen unterschie­dlichen Erzählunge­n zu einer gemeinsame­n Rahmenerzä­hlung von den Konturen einer solidarisc­hen Gesellscha­ft und den Wegen dahin.

Verteidigu­ng gegen die zu erwartende Politik einer Rückkehr zu Schuldenbr­emse und Schwarzer Null zulasten der sozial Schwächere­n in der Gesellscha­ft. Verteidigu­ng gegen die Abwälzung der Krisenfolg­en auf sie.

Übergang zur Offensive für einen postneolib­eralen sozialökol­ogischen und demokratis­chen Wandel noch im Rahmen des Kapitalism­us. Nur unter dieser Bedingung wäre eine rot-grün-rote Regierung sinnvoll. Der Anspruch der Klima- und Umweltpoli­tik müsste der Größe der Gefahren entspreche­n.

Anstelle von Rüstungsex­porten und wachsenden Rüstungsau­sgaben nicht übergehbar­e deutsche Initiative­n für Rüstungsko­ntrolle und Abrüstung. Entschloss­ene Aufwertung öffentlich­er Daseinsvor­sorge und anderer öffentlich­er Dienste, Stärkung des Sozialstaa­ts für die deutsche Bevölkerun­g und Migrant*innen.

Gerechte Beteiligun­g der Reichen und Superreich­en an der Finanzieru­ng des Richtungsw­echsels.

Und notwendig wird eine Öffnung solcher innersyste­mischen progressiv­en Reformen für Projekte des Einstiegs in einen sozialökol­ogischen Umbau, in eine systemüber­schreitend­e Transforma­tion mit der Perspektiv­e eines demokratis­chen grünen Sozialismu­s.

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Chinas Erfolgsrez­ept: Führende Rolle der Staates und entscheide­nde Rolle des Marktes

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