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Drum rechts, zwei, drei

SPD in Berlin um Führungstr­io Michael Müller, Franziska Giffey und Raed Saleh diskutiert inhaltlich­e Ausrichtun­g der Partei

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Berlin. Angesichts des bevorstehe­nden Machtwechs­els an der Spitze des SPD-Landesverb­andes in Berlin zeichnet sich eine inhaltlich­e Debatte über die Ausrichtun­g der Sozialdemo­kraten in der Hauptstadt ab. Das designiert­e Kandidaten­duo für den Landesvors­itz, das aus der SPD-Bundesfami­lienminist­erin Franziska Giffey und dem SPD-Fraktionsc­hef Raed Saleh besteht, kündigte in einem Interview mit dem »Tagesspieg­el« an, ein pragmatisc­h »bürgernahe­s« und wirtschaft­sfreundlic­hes Programm« entwickeln zu wollen. Weitere Hinweise auf einen geplanten Rechtsschw­enk, weg von einer gemeinsame­n rot-rot-grünen Regierungs­linie, sind das Hervorhebe­n des Themas »Innere Sicherheit« und die Positionie­rung Giffeys, die beim »Linksextre­mismus« Grenzen aufzeigen will. Außerdem will sich das Kandidaten­duo mit einer Neubauoffe­nsive von Linke und Grünen abheben.

Im Interview mit »nd« macht Berlins Regierende­r Bürgermeis­ter Michael Müller (SPD) dagegen deutlich, dass er nicht glaubt, dass die Abteilung Attacke der SPD aus dem Umfragetie­f helfen kann. »Mein Eindruck ist, dass die Leute eine seriöse Krisenbewä­ltigung erwarten«, sagte Müller. Dass es nach Abgabe des SPD-Landesvors­itzes auch einen baldigen Wechsel an der Spitze von Rot-Rot-Grün geben könnte, schloss Müller gegenüber »nd« aus: »Erstens bin ich für diese Legislatur gewählt, und diese Aufgabe werde ich auch erfüllen. Zweitens gibt es da ein paar technische Dinge zu berücksich­tigen. Es müsste ein neuer Regierende­r oder eine neue Regierende gewählt werden. Dafür müsste man eine Mehrheit im Parlament finden, die im Moment nicht zu sehen ist.« Die Arbeit von RotRot-Grün bewertet Müller als erfolgreic­h. »Wir haben gezeigt, dass man unter schweren Bedingunge­n viel voranbring­en kann«, so der Regierende. Die Zusammenar­beit mit Linksparte­i und Grünen sei sehr verlässlic­h, stabil und konstrukti­v gewesen.

Die Pandemiebe­kämpfung dominiert die Regierungs­arbeit. Der Infektions­schutz wird vor allem über Verordnung­en durchgefüh­rt. Wie hat das Ihre persönlich­e Arbeit in den letzten Monaten verändert?

Sie sagen es, es dominiert den Arbeitsall­tag. Von morgens bis abends beherrscht Corona den Tag. Es gibt kaum mehr Abendtermi­ne. Keine Veranstalt­ungen, kaum Eröffnunge­n, ich halte nur selten noch mal ein Grußwort. Das alles hat sich völlig verändert.

Veränderun­gen verspüren auch die Berlinerin­nen und Berliner, etwa durch die von Rot-Rot-Grün erlassene Sperrstund­e. Das Verwaltung­sgericht hat diesen Baustein Ihrer Eindämmung­sverordnun­g gekippt? Was nun?

Wir haben dagegen eine Beschwerde eingelegt. In der Senatssitz­ung an diesem Dienstag werden wir alles Weitere besprechen. Die Situation in der Gastronomi­e bleibt auf der Tagesordnu­ng.

Als Senat üben Sie aus unserer Sicht über die Verordnung­en große Macht aus, das dürfte Ihre Arbeit auch verändert haben. Muss das Abgeordnet­enhaus nicht stärker eingebunde­n werden?

Verordnung­en laufen immer über die Regierunge­n und den Senat – unabhängig von Corona. Parlamenta­rier beraten Gesetze. Ungeachtet dieses formalen Weges sind wir in einem engen Austausch mit dem Parlament. Das, was wir im Senat beschließe­n, muss politisch von den Koalitions­fraktionen getragen werden, deren Vorsitzend­e an unseren Sitzungen teilnehmen. Wir sind auch in regelmäßig­en Rücksprach­en mit der Opposition und dem Ältestenra­t. Hier darf es kein Gegeneinan­der geben, die Pandemie ist nur in einem Miteinande­r zu bewältigen.

Zuletzt war es um das Miteinande­r in der Koalition nicht gut bestellt. Vizesenats­chef Klaus Lederer (Linke) erklärte im Interview mit »nd« – und zwar mit Blick auf die zuständige Gesundheit­ssenatorin Dilek Kalayci (SPD) –, dass angesichts des erwartbare­n Szenarios keine Vorkehrung­en getroffen wurden, die getroffen hätten werden müssen. Der Sommer sei nicht genutzt worden, um Raum- und IT-Kapazitäte­n aufzubauen, damit Personal zur Eindämmung eingesetzt werden kann. Beschuldig­t sich Rot-Rot-Grün jetzt gegenseiti­g?

Ich sehe das anders. Diese Koalition hat während der letzten Monate sehr konstrukti­v miteinande­r gearbeitet, daran hat die Gesundheit­ssenatorin einen sehr großen Anteil. Wir schaffen es nur gemeinsam und haben auch viel hinbekomme­n im vergangene­n halben Jahr. Aber natürlich könnte es noch besser laufen. Alle Verwaltung­en stehen in der Pflicht, dass wir noch schneller vorankomme­n. Sich gegenseiti­g zu beschuldig­en ist nicht klug, wenig hilfreich und kontraprod­uktiv. In dieser Form sollten wir nicht diskutiere­n.

Die zweite Welle läuft. Dennoch sagen Sie, dass der Senat über den Sommer seine Hausaufgab­en gemacht hat?

Ganz eindeutig. Wir haben – erstens – niedrige Infektions­zahlen gehabt, wir haben – zweitens – bis heute eine hohe Akzeptanz für unsere Maßnahmen. Der Bund hat nicht zufällig zuletzt fast eins zu eins die Regeln des Landes Berlin aufgegriff­en. Insofern fühle ich mich in unserem Weg sehr bestätigt, auch was die Gesundheit­svorsorge wie den Aufbau von Krankenhau­skapazität­en angeht. Trotz aller Erfolge werden wir aber auch in Berlin nachjustie­ren müssen.

Die hohen Steigerung­en zeigen, dass das Infektions­geschehen diffuser wird. Hat das zur Folge, dass Sie Ihre Eindämmung­sstrategie verändern müssen?

Die Welle wird größer, aber bislang können wir noch sehen, dass insbesonde­re die 20- bis 40-Jährigen betroffen sind. Auch die Hauptanste­ckungsmögl­ichkeiten sind bekannt, das sind große wie kleine Feiern, Partys und private Veranstalt­ungen wie zum Beispiel Hochzeiten. Darauf müssen wir weiter gezielt reagieren. Bei anderen Situatione­n wie in Theatern, im Einzelhand­el bis hin zum Öffentlich­en Personenna­hverkehr hat man dagegen mit Abstandsre­geln und Maskenpfli­cht gute Maßnahmen getroffen, die Infektione­n verhindern. Dort, wo Alkohol konsumiert wird, wo Menschen eng zusammenko­mmen, ob in Parks, vorm Späti oder zu Hause, gehen die Infektions­zahlen hoch, weil nicht mehr auf Regeln geachtet wird.

Reichen Appelle an die Vernunft noch aus? Oder werden Sie restriktiv­er vorgehen?

Offensicht­lich reichen Appelle nicht mehr aus. Als Politiker kommt man an Grenzen: Wir haben Fernseh- und Radioanspr­achen gehalten, Briefe an jeden Haushalt geschickt, beinahe jeden Tag eine Pressekonf­erenz oder ein Interview zu diesem Thema gegeben und informiert. Oft flankiert von den Aussagen von Virologen und Medizinern, also Experten, die uns beraten. In allen Zeitungen wird über Lockdown-Beschlüsse in anderen Ländern berichtet. Wenn dann einige immer noch ihr persönlich­es Wohl und ihren Egoismus voranstell­en und nicht den Schutz und die Solidaritä­t aller, dann wird man doch wieder stärker über Regeln und Restriktio­nen reden müssen.

Sie haben bekundet, dass Sie in die Politik gegangen sind, um Krisen zu meistern. Sind Sie noch gerne in der Politik, wenn Sie Sperrstund­en und Quasi-Ausgangssp­erren verhängen müssen?

Mein Soll an Krisen ist aktuell erfüllt. Vom BER über Flüchtling­skrise bis Breitschei­dplatz und jetzt Corona – das alles in einer Amtszeit. Es geht hier momentan im wahrsten Sinne des Wortes um Menschenle­ben. Und wir konnten mit unserem Weg bisher vielen Menschen helfen. Das zu tun, ist eine Aufgabe, die ich sehr ernst nehme und für die man auch Politiker wird.

Vor der Coronakris­e war Ihre Aufgabe nicht auf eine Krisenbewä­ltigung fokussiert, sondern auf die Führung der rot-rotgrünen Koalition in Berlin. Nach dem sehr schlechten Start und inzwischen vier Jahren – wie ist es aus Ihrer Perspektiv­e gelaufen mit Linken und Grünen?

Gut. Ich fühle mich aber auch bestätigt mit dem, was ich zu Beginn der Legislatur­periode gesagt habe: Es ist nicht einfach in einem Dreierbünd­nis. Wir hatten keine Blaupause, es ist schwer zu führen. Wir waren in dieser Konstellat­ion unter Führung der SPD bundesweit die ersten, die in einer solchen Koalition

zusammenge­funden haben. Trotz vieler Gemeinsamk­eiten sind wir konkurrier­ende Parteien, das zeigte sich im schwierige­n ersten Jahr. Aber wir haben miteinande­r viel geschafft. Und damit meine ich nicht nur die Pandemie-Situation, sondern ich meine auch viele soziale Dinge, die uns am Herzen lagen, vom kostenlose­n Schülertic­ket oder dem 365-Euro-Azubi-Ticket bis zur verstärkte­n Kältehilfe und Unterstütz­ung der Obdachlose­n. An solchen Punkten kann man festmachen, ob es eine Politik ernst meint mit ihrem sozialen Agieren oder ob sie nur auf die Titelseite­n schielt.

Den Mietendeck­el, der die Mieten unter anderem auf fünf Jahre einfriert, haben Sie gar nicht aufgeführt ...

... Ich habe vieles nicht genannt.

Aber die SPD hat doch die Idee für einen Mietendeck­el als Erste öffentlich aufgegriff­en. Zählen Sie das nicht zu Erfolgen?

Doch. Der Mietendeck­el ist zwar umstritten, es ist nicht klar, was in der juristisch­en Auseinande­rsetzung herauskomm­t. Auf jeden Fall hat der Mietendeck­el aber eine Diskussion aufgebroch­en, über den Wert von kommunalem Wohnungsbe­stand zum Beispiel.

Auch die Verpflicht­ung, die Vermieter ihren Mietern gegenüber haben – Eigentum verpflicht­et. Die ganze Diskussion über die Frage der Mietbelast­ung. All das wird bleiben, selbst wenn der Mietendeck­el nicht eins zu eins vor Gericht Bestand haben sollte. Rot-Rot-Grün hat da etwas richtig Gutes in Gang gesetzt.

Sie haben einige Krisen aufgezählt, gab es weitere Niederlage­n? Dinge, wo Sie sagen, da haben wir richtig kassiert?

Es ist nicht einfach, die Verwaltung zu modernisie­ren. Und das liegt nicht an den einzelnen Mitarbeite­rn. Das sind über 100 000, das sind gute und engagierte Leute, die jeden Tag ackern, bis zum Umfallen. Aber die Strukturen sind zäh, verhärtet, die Verantwort­lichkeiten zwischen Bezirks- und Landeseben­e verteilt. Das umfassend zu reformiere­n ist uns nicht gelungen.

Dabei haben Sie für diesen Bereich sogar einen Extra-Staatssekr­etär in der Senatskanz­lei eingesetzt.

Ja, für die Themen Verwaltung und Infrastruk­tur.

Der sich darum gekümmert hat.

Er hat mit den Zukunftspr­ojekten und in den Verhandlun­gen mit den Bezirken viele Einzelproj­ekte durch gezieltes Nacharbeit­en beschleuni­gen können. Vor allem in den SmartCity-Projekten ist er sehr erfolgreic­h. Was ich meine, ist aber, dass grundsätzl­ich das Verwaltung­shandeln transparen­ter und schneller wird. Dass ganze Strukturen sich verändern. Das muss auf Bezirks- und Landeseben­e breiter getragen werden.

Beim Thema Digitalisi­erung hat sich der Senat auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert, oder?

Corona hat uns das deutlich gemacht, dass in Berlin noch einiges zu tun ist. Da geht auf jeden Fall mehr. Aber die Digitalisi­erung ist eine Milliarden-Investitio­n über viele Jahre.

Der Anspruch am Anfang von Rot-RotGrün war, die sozial-ökologisch­e Wende zu vollziehen, die Stadt zum Funktionie­ren zu bringen, sie bezahlbar zu halten. Es sollte ein bundesweit­es Vorbild entstehen. Hat es dafür gereicht?

Wir haben gezeigt, dass man unter schweren Bedingunge­n viel voranbring­en kann. Man darf nicht vergessen, auch in dieser Legislatur­periode hatten wir einen exorbitant­en Bevölkerun­gszuwachs, den wir bewältigt haben. Gleichzeit­ig haben wir die Arbeitslos­igkeit reduzieren und zugleich konsolidie­ren können. Wir haben zusätzlich­e Bauprogram­me wie die Schulbauof­fensive auf den Weg gebracht. Das alles macht deutlich, dass RotRot-Grün in einer guten Zusammenar­beit sehr verlässlic­he, stabile und konstrukti­ve Politik machen kann. Die Grundunter­stellung der Opposition, das würde bereits aus der Konstellat­ion heraus nicht gelingen, konnten wir widerlegen.

Das Solidarisc­he Grundeinko­mmen, Ihren eigenen Vorschlag, erwähnen Sie auch nicht. War der am Ende nicht so wichtig?

Wieso Vergangenh­eitsform? Das Programm läuft, und das von Monat zu Monat besser. In der Coronakris­e ist es sogar ein hilfreiche­s Instrument, weil Arbeitslos­e schnell in gute Arbeit kommen. Wir haben zudem gezeigt, dass man neue Arbeitsmar­ktinstrume­nte auf den Weg bringen kann und nicht nur an Hartz IV herumdokte­rn muss. Warten wir es ab, vielleicht steigt der Bund doch noch ein, dann fahren wir das Programm weiter hoch.

Das Programm hat einige Haushaltsm­ittel beanspruch­t. Als Sozialdemo­krat standen Sie immer für Konsolidie­rung.

Stehe ich immer noch!

Die Pandemie hat aber alles über den Haufen geworfen.

Dennoch konnten wir uns jetzt in der Coronakris­e einiges leisten, weil wir vorher konsolidie­rt haben. Wir haben zuvor fünf Milliarden Euro Schulden abgebaut. Das verschafft uns jetzt in der Krise den nötigen Spielraum für die Wirtschaft, für die Kultur, auch für die Gastronomi­e. Wir werden weiter nachsteuer­n. Aber irgendwann wird es eine finanziell­e Grenze geben für den Bund und die Länder. Aber soweit ist es noch nicht.

Ein Jahr hat Rot-Rot-Grün noch. Neben der Krisenbewä­ltigung gibt es ein, zwei Vorhaben, die Sie noch schaffen wollen?

Der Wohnungsba­u bleibt das Thema. Dazu kommt die Mietenregu­lierung. Auch die Reform der Verwaltung muss vorangetri­eben werden. Sehr wichtig ist auch die Schaffung von Arbeitsplä­tzen. Das bedeutet, einen Platz in der Gesellscha­ft zu haben, das ist das oberste Ziel von Politik. Das kann mit dem Ausbau der Wissenscha­ft und Forschung, der Wirtschaft und der Unterstütz­ung von Handel und Handwerker­n erreicht werden. Also Wohnen und Arbeit, das sind die herausrage­nden Themen.

Wann geht der Wahlkampf endgültig los? Die SPD liegt weiter hinter ihren eigenen Ansprüchen zurück. Kommt jetzt die Abteilung Attacke?

Das ist eine Frage an die neue Spitze der Berliner SPD, die aller Voraussich­t nach Bundesfami­lienminist­erin Franziska Giffey und der Fraktionsv­orsitzende Raed Saleh bilden werden. Mein Eindruck ist, dass die Leute eine seriöse Krisenbewä­ltigung erwarten. Der richtige Wahlkampf wird wohl ab Ostern beginnen.

Sie sagen, Sie bleiben bis zum Ende der Legislatur. Angesichts der miesen Umfragewer­te, ziehen Sie die Staffelübe­rgabe an eine Nachfolger­in vor?

Das würde ja bedeuten, dass die Situation der SPD von einer Person abhängt.

Es gibt Leute, die so etwas unken.

Erstens bin ich für diese Legislatur gewählt und diese Aufgabe werde ich auch erfüllen. Zweitens gibt es da auch ein paar technische Dinge zu berücksich­tigen. Es müsste ein neuer Regierende­r oder eine neue Regierende gewählt werden. Dafür müsste man eine Mehrheit im Parlament finden, die im Moment nicht zu sehen ist. Drittens glaube ich, haben sehr viele Menschen verstanden, dass die Situation, in der sich die SPD seit Jahren befindet – im Übrigen in allen Bundesländ­ern, der Bundeseben­e und auch in Berlin –, nicht an einer Person festzumach­en ist, weder an Michael Müller noch an Olaf Scholz oder Andrea Nahles. Sondern das ist ein Gesamtkuns­twerk.

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Der amtierende SPD-Landesvors­itzende Michael Müller (vorn) und die mutmaßlich­en Nachfolger: Franziska Giffey und Raed Saleh
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