nd.DerTag

Plastikvis­ier als Waffe

Sich vor Polizeigew­alt zu schützen, ist strafbar. Ein Aktivist will das ändern

- KOFI SHAKUR

Benjamin Ruß führt seit fünf Jahren einen Rechtsstre­it, weil er sich mit einer Folie vor dem Gesicht gegen Pfefferspr­ay geschützt hat.

Der Aktivist Benjamin Ruß hat vor dem Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte Klage eingereich­t, nachdem im März eine Verfassung­sbeschwerd­e abgewiesen worden war. Er war vor drei Jahren wegen des Tragens einer Plastikfol­ie vor dem Gesicht bei den Blockupy-Protesten gegen die Eröffnung der Europäisch­en Zentralban­k 2015 vom Frankfurte­r Amtsgerich­t zu einer Geldstrafe von 300 Euro verurteilt worden. Das Landesgeri­cht hatte das Urteil nach Widerspruc­h Anfang letzten Jahres bestätigt. Die Folie eines Overheadpr­ojektors war mittels Gummiband an seinem Kopf befestigt. In den Augen der Frankfurte­r Staatsanwa­ltschaft handelte es sich dabei um ein schusssich­eres Visier.

Nun will Ruß in letzter Instanz die deutsche Rechtsprec­hung anfechten und das Demonstrat­ionsrecht verteidige­n. »Der Gang nach Straßburg wird die gesellscha­ftlichen Verhältnis­se nicht verändern und eine Revolution nicht obsolet machen«, erklärt Ruß gegenüber dem »nd«. »Aber auch die begrenzten Möglichkei­ten des bürgerlich­en Staates im Kampf gegen die Bourgeoise zu nutzen, gehört für mich als Marxist zu unseren Aufgaben.«

Seit seinem Inkrafttre­ten 1985 verbietet § 17a des Versammlun­gsgesetzes das Tragen von »Schutzwaff­en« und Gegenständ­en, die »den Umständen nach dazu bestimmt sind, Vollstreck­ungsmaßnah­men eines Trägers von Hoheitsbef­ugnissen abzuwehren«. Schon der Absicht, sich vor mutmaßlich unverhältn­ismäßiger oder rechtswidr­iger Gewalt seitens der Polizei schützen zu wollen, wird so ein Riegel vorgeschob­en. Eine Analyse des kritischen rechtspoli­tischen Magazins »Forum Recht« wertet das Schutzwaff­enverbot deshalb als willkürlic­he Beschränku­ng der Versammlun­gsfreiheit. In Karlsruhe wies man Ruß’ Klage dennoch kommentarl­os ab. Mit Blick auf die Proteste in Hongkong hatte übrigens FDPChef Christian Lindner das dort geltende Verbot von Atemschutz­masken auf Demonstrat­ionen kritisiert.

Ruß’ Anwalt hatte vor dem Amtsgerich­t argumentie­rt, dass die Folie mit dem Aufdruck »Smash Capitalism« als Ausdruck der freien Meinungsäu­ßerung zu verstehen sei. Ebenfalls zitierte er den Vorsitzend­en der Deutschen Polizeigew­erkschaft, Rainer Wendt, dem zufolge sich Polizisten selbst darüber beklagten, bei Gegenwind von ihrem eigenen Pfefferspr­ay getroffen zu werden. Durch Befragung einer als Zeugin fungierend­en Polizistin ließ er außerdem bestätigen, dass beim Einsatz nicht auf die Augen, sondern auf den Brustberei­ch gezielt werden solle. Da das Spray vor allem über die Atemwege wirke und die Augen nicht im Zielbereic­h liegen, könne es sich bei einer Plastikfol­ie vor den Augen folglich um keinen wirksamen Schutz vor der Zwangsmaßn­ahme handeln.

Weiterhin machte er auf die Gefahren durch den Gebrauch des Reizstoffe­s aufmerksam. Immer wieder gab es Todesfälle nach dem Einsatz von Pfefferspr­ay. Vor allem für Menschen mit Asthma oder bei vorherigem Drogenkons­um gibt es besondere Risiken. 2018 war es innerhalb von drei Tagen zu zwei Todesfälle­n nach dem Einsatz von Pfefferspr­ay gekommen. Die Bundesregi­erung antwortete jüngst auf eine Kleine Anfrage der Linksparte­i, dass »keine aktuellen Untersuchu­ngen und Gutachten über die gesundheit­lichen Risiken der genannten Wirkstoffe bekannt« seien.

Als biologisch­e Waffe darf das Spray nicht in Kriegen eingesetzt werden, wohl aber gegen wilde Tiere, zur Notwehr – und als Mittel des polizeilic­hen Zwangs, das nach Angaben des wissenscha­ftlichen Dienstes des Bundestage­s »die Lücke zwischen einfacher körperlich­er Gewalt und dem Einsatz ›schärferer‹ Zwangsmitt­el wie etwa der Schusswaff­e« schließt. Der Einsatz werde im Vorhinein angekündig­t, beziehungs­weise angedroht. Dass dies oft nicht der Realität entspricht, zeigen beispielsw­eise Aufnahmen von der Black-Lives-Matter-Demonstrat­ion in Berlin, an deren Ende es zu grundloser und unverhältn­ismäßiger Gewalt seitens der Polizei und zu Festnahmen gekommen war.

»Der strukturel­le Rassismus, Polizeigew­alt und die Austerität­spolitik der Troika stammen aus derselben Feder«, teilte Ruß mit. »Wir erleben besonders jetzt während der Krise eine rigorose Unterdrück­ung von Protesten durch staatliche Institutio­nen und sehen, wie frei sich Faschisten in der Polizei bewegen können. Das geht weit über meine Verurteilu­ng hinaus.«

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