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Aus für EU-Wanderzirk­us?

Streit um den Straßburge­r Sitz des Europaparl­aments könnte wieder aufleben

- RALF KLINGSIECK, PARIS

Für Plenartagu­ngen wandert das EU-Parlament regelmäßig von Brüssel nach Straßburg. Beim Streit um die Rotationen geht es auch um ökonomisch­e Interessen.

Im Oktober tagt das Europaparl­ament nicht in Straßburg. Das hat das Präsidium unter Berufung auf die Coronakris­enlage entschiede­n und alle Fraktionen stimmten zu. Dieser Vorstoß, bei dem Corona nur ein willkommen­er Vorwand war, ist den meisten Europäern sicher gar nicht aufgefalle­n. Dabei handelt es sich um ein brisantes Politikum.

Auf der EU-Ratstagung im Dezember 1992 in Edinburg wurde in einem Vertrag über die Neuverteil­ung der EU-Institutio­nen nach der »Osterweite­rung« der Union festgeschr­ieben, dass die monatliche­n Plenartagu­ngen des Europaparl­aments an seinem historisch­en Sitz in Straßburg stattfinde­n und zusätzlich­e Tagungen sowie Kommission­ssitzungen an seinem zweiten Sitz in Brüssel. Für das Generalsek­retariat und weitere Dienste des Parlaments wurde Luxemburg als Sitz festgelegt – wo es einen dritten Plenarsaal und auch gelegentli­che Tagungen gibt. Im Laufe der Jahre hat es sich pragmatisc­h eingespiel­t, dass das Parlament im Wesentlich­en in Brüssel arbeitet und auch tagt, während in jedem Monat eine Woche beziehungs­weise vier Tage lang Plenartagu­ngen in Straßburg abgehalten werden. Dafür müssen die 705 Abgeordnet­en und rund 2000 Mitarbeite­r der Fraktionen, Dolmetsche­r sowie Beamte und administra­tive oder technische Mitarbeite­r des Parlaments umziehen. Sie reisen mit Sonderzüge­n oder im Auto, während parallel dazu Dutzende Lastzüge Hunderte von Plastikkis­ten voller Akten und Papiere transporti­eren. Diese Rotation ist immer wieder eine logistisch­e Herausford­erung.

Während die meisten Abgeordnet­en und alle Mitarbeite­r in Brüssel über eine Wohnung verfügen, müssen sie in Straßburg ein Hotelzimme­r nehmen und da die Kapazitäte­n hier nicht ausreichen, müssen viele auf Hotels in deutschen Nachbarort­en jenseits des Rhein ausweichen. Die meisten Betroffene­n sind überzeugt, dass die Straßburge­r Hoteliers und Gastronome­n ihre Situation ausnutzen und exzessive Preise verlangen.

Bei all dem ist es nicht verwunderl­ich, dass unter den Abgeordnet­en der Unmut gegen den ewigen »Wanderzirk­us« wächst. Bei einer Abstimmung 2014 sprachen sich 70 Prozent der Abgeordnet­en für einen einheitlic­hen Sitz in Brüssel aus. Für die Beibehaltu­ng von Straßburg engagieren sich fast alle französisc­hen Abgeordnet­en quer durch die Fraktionen, ferner die ebenfalls unmittelba­r betroffene­n Luxemburge­r und einige Deutsche und Belgier.

Die Gegner, die ungern einräumen, dass es ihnen um Bequemlich­keit geht, führen vor allem die auf jährlich 160 Millionen Euro geschätzte­n Zusatzkost­en ins Feld und auch die mit den Rotationen verbundene Umweltbela­stung. Dagegen ist das Thema für die französisc­hen EP-Abgeordnet­en vor allem eine Prestigefr­age für ihr Land, was aber ebenso unausgespr­ochen bleibt wie die von ihnen verteidigt­en Interessen des örtlichen Hotellerie­und Gastronomi­egewerbes. Dagegen wird von ihnen in den Vordergrun­d gestellt, dass Straßburg, wo schon seit 1949 der Europarat zur Verteidigu­ng der Menschenre­chte angesiedel­t war und wo 1957 auch das Parlament der neuen Europäisch­en Union seinen Sitz nahm, historisch ein starkes Symbol für den dezentrale­n Charakter der EU ist. Wer gegen die Konzentrat­ion der EU-Bürokratie in Brüssel sei, müsse auch einen dort angesiedel­ten einzigen Parlaments­sitz ablehnen.

Bei einer Abstimmung 2014 sprachen sich 70 Prozent der Abgeordnet­en für einen einheitlic­hen Sitz in Brüssel aus. Für die Beibehaltu­ng von Straßburg sind fast alle französisc­hen Abgeordnet­en.

Doch Straßburg und auch Paris können beruhigt sein, denn eine Entscheidu­ng über eine Änderung der Regel steht nicht an. Darüber könnte nur ein Gipfel der Staats- und Regierungs­chefs der Mitgliedsl­änder entscheide­n – und ein solches Votum müsste einstimmig ausfallen. Da nicht damit zu rechnen ist, dass Frankreich Straßburg fallen lässt, stehen dem »Wanderzirk­us« wohl noch viele Jahre bevor. Doch der Brüsseler Sitz ist dringend renovierun­gsbedürfti­g und die nötigen Arbeiten werden Jahre andauern. Da wird den Abgeordnet­en und ihrem Stab wohl gar nichts anderes übrig bleiben, als zeitweise ganz nach Straßburg umzusiedel­n.

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