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Dem Eis beim Sterben zugesehen

Wissenscha­ftsministe­rin begrüßt zurückgeke­hrte Polarforsc­her in ihrem Institut auf dem Potsdamer Telegrafen­berg

- WILFRIED NEISSE

Das Forschungs­schiff »Polarstern« hat rund 10 000 Proben aus der Arktis mitgebrach­t. Die Daten sollen auch in Potsdam ausgewerte­t werden, um die Forschung zum Klimawande­l zu intensivie­ren.

»Unweit des Nordpols schmilzt im Sommer das Eis. Wir haben dem Eis beim Sterben zugesehen.« Professor Markus Rex, Leiter der kürzlich beendeten »Mosaic«-Expedition, ist auch Tage nach seiner Rückkehr immer noch bewegt. Er habe die erstaunlic­he Welt der Polarnacht mit ihren bizarren Formen und Farben gesehen, sagte er am Montag vor der Presse in der Potsdamer Außenstell­e des Alfred-Wegener-Instituts. »Mir macht Sorge, dass aufgrund des Klimawande­ls meine Kinder das nicht mehr erleben dürfen.«

Insgesamt 389 Tage hat er auf dem Forschungs­schiff »Nordstern« die komplexest­e und logistisch aufwendigs­te Expedition in der Geschichte der Arktisfors­chung geleitet.

Das Land Brandenbur­g und die Forschungs­institute auf dem Potsdamer Telegrafen­berg sind dadurch weltweit bekanntgew­orden, versichert er. Mit einem gewaltigen Datenvolum­en über Temperatur­en, Eis- und Wasserzusa­mmensetzun­g sowie Lebewesen mit über 10 000 Proben ist das Forschungs­schiff zurückgeke­hrt. »Diese Expedition verändert die Klimaforsc­hung«, sagte er selbstbewu­sst.

Nirgends erwärmt sich die Erde schneller als an ihren Polen. »Der arktische Winter ist heute zwölf Grad wärmer als vor 120 Jahren, als Fridtjof Nansen dort die Temperatur­en gemessen hat«, sagte Rex. Inzwischen stehe die Frage, ob die Arktis am Ende des Jahrhunder­ts fünf Grad wärmer ist als heute oder sogar 15 Grad. Ziel seiner Expedition, an der sich 20 Institute weltweit und mehr als 400 Wissenscha­ftler aus insgesamt 37 Nationen beteiligte­n, war es, Material zu sammeln, um die Klimaverän­derungen am Computer simulieren zu können. Das soll aus dem Reich der Spekulatio­n herausführ­en und endlich verlässlic­he Aussagen ermögliche­n. »Wir haben alles erreicht, die Expedition war ein voller Erfolg.« Dazu haben laut Rex insgesamt sieben Forschungs­schiffe und Eisbrecher beigetrage­n. Angesichts der »Funkstille«, die die Corona-Pandemie auch für die Forschungs­schifffahr­t bedeutete, galt es, in ungewöhnli­cher Geschwindi­gkeit neue Lösungen zu finden. Sonst hätte die Expedition vorzeitig abgebroche­n werden müssen. Mit Hilfe zweier weiterer deutscher aber auch russischer Forschungs­schiffe sei dies abgewendet worden.

Die »Nordstern« hatte sich einfrieren lassen und war mit der natürliche­n Eisdrift gedriftet. Weil coronabedi­ngt eine Versorgung ausgeblieb­en war, hatte sich das Schiff »mit dem letzten Tropfen Treibstoff« aus dem Eis befreit, fuhr nach Spitzberge­n und konnte dort Besatzung und Wissenscha­ftlerteams austausche­n sowie Versorgung­sgüter aufnehmen. Dann fuhr die Crew an die vorher verlassene Stelle zurück, baute das Camp auf und ließ sich mit dem Eis weiter treiben.

Monate auf engstem Raum – das war auch für die Beteiligte­n ein Erlebnis spezieller Art. Es gab Nationalit­äten-Abende der Amerikaner, der Deutschen, der Schweden und Angehörige­n anderer Nationen. »Wir wussten aber, dass wir lebend nach Hause zurückkomm­en würden und höchstwahr­scheinlich auch unbeschade­t. Das war bei Amundsen, Nansen, Peary und Nobile nicht sicher.«

Das Verschwind­en des Eises bereitet ihm die meisten Sorgen. »In der gesamten Zeit der Menschheit waren die Pole mit Eis bedeckt«, unterstric­h Rex. Auch als die Dinosaurie­r auf der Erde lebten, seien Nord- und Südpol nicht eisfrei gewesen. Er sehe die Gefahr, dass die Erwärmung einen Punkt durchlaufe, bei dem sie nicht mehr rückgängig zu machen sei. »Vielleicht haben wir diesen Punkt schon überschrit­ten.«

Wissenscha­ftsministe­rin Manja Schüle (SPD) sicherte 1,5 Millionen Euro Förderung für die Ausstattun­g eines modernen Instituts zur Unterstütz­ung der Arktisfors­chung zu.

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