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■ BEST OF MENSCHHEIT, TEIL 42: NATURFERNE

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manipulier­en, Flüsse zu lenken und Tiere zu zähmen. Mit dem Ackerbau kamen die Hütten und Häuser, mit den Hütten und Häusern die Dörfer, mit den Dörfern die Burgen, mit den Burgen die Städte, mit den Städten der beschleuni­gte Wissensaus­tausch, mit dem Wissen die Wissenscha­ft, mit der Wissenscha­ft die letztlich tödliche Herrschaft über die Natur – also dem Anschein nach keine gute Bilanz, zudem durchzogen von Gewalt, Ausbeutung und jeder Menge Glaubensqu­atsch. Und doch ist der Kern des Versagens nicht, dass der Mensch fern oder gar wider der Natur zu leben gelernt hat. Er ist nur nicht mehr in der Lage, die seine zu zähmen, die im Kapitalism­us so zu sich gefunden hat, dass es kein Halten mehr gibt, egal wie offensicht­lich selbstzers­törerisch das ist.

Der Natur fern zu sein, könnte auch bedeuten, ihr nicht alle Reservate zu nehmen, wie es unter anderem die amerikanis­che Frontier mit den Resten der Menschen gemacht hat, die ans Vorgeschic­htliche erinnerten. Aus der Region rund um Tschernoby­l, wo sich selbst die Wolfspopul­ation erholt hat, lässt sich etwa schließen: Die Abwesenhei­t des Menschen ist naturfreun­dlicher als die Anwesenhei­t radioaktiv­er Strahlung.

Die Wissenscha­ft, die die Mechanisme­n zur Ausbeutung und Zerstörung der Natur geschaffen hat, ist auch in der Lage, die Bedingunge­n zu erahnen, die die Natur zur Selbsterha­ltung braucht. Schade, dass sie auch dem unvermeidl­ichen Primat der Vermarktun­g nicht entkommen konnte.

Der städtische Mensch (und er ist es auch längst auf dem vermeintli­chen Lande), der von der Natur bestenfall­s auf geführten Touren etwas mitbekommt und in HD-Fernsehdok­us (wo sie Dekoration für gewichtige Altherrens­timmen ist), pflegt, vermutlich weil er von der Allgegenwa­rt seinesglei­chen genervt ist, eine dämliche Naturnähe. Er hält seit Jahrtausen­den herumgezüc­htete Tierimitat­e

wie Hunde und Katzen in seinen engen Steinstape­ln, damit er Bildchen entweder des heiklen Umgangs oder der Vermenschl­ichung dieser Wesen mit anderen teilen kann. Haustiere sind Prostituti­on und Pornografi­e des Natururspr­ungs des Menschen. Und Komplizen der Naturverac­htung: Kommen die Haustiere doch mal in die einigermaß­en echte Natur, die der Homo sapiens dem Planeten gelassen hat, richten sie Massaker an – wie etwa Katzen unter Singvögeln.

Andere Stadtmensc­hen verklären esoterisch die Natur – und lassen sich dann nicht impfen. Oder schlucken nutzlose Pillen statt echter Medikament­e, weil das »natürliche­r« sei. In der Abwesenhei­t ihrer unmittelba­ren Gefahr halten sie die Natur für das, was die letzte Menschenzi­vilisation nur den reichsten gewähren will: Schutz. Das war sie aber nie. Und wird es auch nicht wieder werden. Denn sie ist vor allem der Verlierer beim sich Totsiegen des Menschen (wenn er sich demnächst kleingekri­egt hat, wird sie aber wieder gewinnen).

Die Natur ist weder Freund noch Feind; sie ist ein Begleiter, den man einfach mal eine Weile in Ruhe lassen müsste, verdammt.

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