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Die letzte Reise

Milo Raus »Everywoman« an der Berliner Schaubühne beschwört eine Revolution der Sterbliche­n

- MICHAEL WOLF

Der Regisseur Milo Rau reist mit leichtem Gepäck. Als der Schweizer vor zwei Jahren seine Intendanz am Nationalth­eater Gent in Belgien antrat, veröffentl­ichte er ein Manifest, das die zehn Regeln eines »Stadttheat­ers der Zukunft« verkündete. Vollmundig und selbstsich­er klang das, auch in der Entschiede­nheit zum Minimalism­us. Die achte Regel lautet: »Das Gesamtvolu­men des Bühnenbild­s darf 20 Kubikmeter nicht überschrei­ten, das heißt eines Lieferwage­ns, der mit einem normalen Führersche­in gefahren werden kann.«

Sparsam fällt dementspre­chend die Gestaltung des Bühnenbild­es an der Berliner Schaubühne aus, die Zeichen stehen auf Aufbruch. Ein paar Umzugskart­ons stehen herum, links ein kleiner Flügel, bereit zur Abholung, rechts ein Findling, der sich aber bald als leichte Kulisse erweist. Die Schauspiel­erin Ursina Lardi schiebt ihn mühelos in die Bühnenmitt­e, sagt dabei wie zu sich selbst: »Ich weiß nicht, ob ich eine Seele habe. Oder nur Verstand.« Ruhig, gemächlich und rätselhaft beginnt dieser Abend. Worum geht es? Nicht um Werte oder Figuren, wie Lardi erklärt. »Eine Moral kann ich nicht mehr abliefern. Bitte entschuldi­gen Sie. Wir brauchen eine ganz andere Erlösung.«

Die Schaubühne, wo das Stück am vergangene­n Donnerstag Premiere feierte, ist Kooperatio­nspartner, erstmals gezeigt wurde es bereits im August bei den Salzburger Festspiele­n. »Everywoman« basiert auf der Auseinande­rsetzung mit Hugo von Hofmannsth­als »Jedermann«, jenem Klassiker, der Jahr für Jahr vor dem Salzburger Dom gespielt wird. Der reiche Jedermann ist dem Tode geweiht, rasch muss er nun noch ein guter Mensch werden, um ins Paradies zu gelangen. Rau und Lardi, die den Text gemeinsam verantwort­en, scheinen dem schon zur Uraufführu­ng im Jahr 1911 recht verstaubte­n Heilsversp­rechen nicht zu trauen, streben sie das Himmelreic­h doch schon auf Erden an.

Ihre Neudichtun­g behandelt weiterhin die letzte Reise des Menschen. Allerdings birgt keine christlich­e und auch keine andere Moral die erhoffte Erlösung, sondern einzig die Anerkennun­g des Todes. »Everywoman« versucht die Sterblichk­eit als Verbindung zwischen den Individuen fruchtbar zu machen, im geteilten Verhängnis ein humanistis­ches Potenzial aufscheine­n zu lassen. »Es geht darum, dass ein Mensch wirklich erfasst wird. Nur ein einziger Mensch. Nur ein einziges Mal. Dass diese Einsamkeit, die uns trennt, verschwind­et.«

Von dieser Prämisse ausgehend, bei der nicht sicher ist, ob sie noch als philosophi­sch oder schon als esoterisch zu beschreibe­n wäre, ergäbe sich, so offenbar die Hoffnung, eine emanzipato­rische Kraft: Hat die Menschheit sich selbst erst als Gemeinde von Sterbenden verstanden, könnte sie sich von all dem befreien, was sie mit dem Ziel betreibt, eben dieses Sterben zu verdrängen – also jene Systeme aus Ordnung und Macht, die ihrerseits Gewalt ausüben. »Endlich Freiheit! Endlich Gerechtigk­eit! Endlich Wissen! Endlich Wildheit! Endlich Gemeinscha­ft!«

Abend für Abend kann man im Theater Figuren und Geschichte­n verfolgen, selten aber sieht man einen Menschen in solcher Schärfe.

So erfreulich optimistis­ch dieser Gedankenga­ng zunächst erscheint, so ausweglos dürfte er jenen erscheinen, die von ihm ausgehend eine politische Idee für das 21. Jahrhunder­t zu entwerfen versuchen. Eine solche Revolution der Sterbliche­n auszurufen, ist möglicherw­eise Relikt einer Recherche mit indigenen Künstlern in Brasilien. Dort wollten Lardi und Rau »Antigone« mit Indigenen und Aktivisten der Landlosenb­ewegung inszeniere­n und auch ihren »Jedermann« ursprüngli­ch ansiedeln, aber das Coronaviru­s brach über die Welt herein und das Projekt musste gestoppt werden. Sie mussten umdenken, das Konzept zu dem Abend in seiner jetzigen Gestalt entstand.

Zum Glück, denn Rau und Lardi haben nur wenig Interessan­tes über den Tod zu erzählen, und von diesem Wenigen muss man noch einige vage Romantizis­men abziehen. Sehr wohl aber erzählt »Everywoman« eindringli­ch vom Leben, und zwar nicht vom Leben an sich, sondern von einem konkreten der pensionier­ten Lehrerin Helga Bedau. Sie ist die zweite Darsteller­in an diesem Abend, in aufgezeich­neten Videos erzählt sie knapp und gewissenha­ft, wie sie aus dem Ruhrgebiet nach Westberlin kam, von Demonstrat­ionen in ihrer 68er-Zeit, von ihrem schmerzlic­h vermissten Sohn – und von ihrer Diagnose.

Bedau hat Buchspeich­eldrüsenkr­ebs. Zum Zeitpunkt der Aufnahmen konnte sie nicht wissen, ob sie die Premiere des Stücks überhaupt noch erleben würde. Über der Bühne schwebt die Videoproje­ktion einer fragil, aber gefasst wirkenden Dame, von der 80 Minuten lang nicht klar ist, ob sie noch unter uns sein kann oder ob sie nun für immer Bild bleiben muss. Diese Grundkonst­ellation trägt den Abend über trübe Einfälle hinweg. Helga Bedau, diese Frau, die sich selbst für nicht sehr besonders hält, kann tatsächlic­h einlösen, was Rau und Lardi versproche­n haben: einen Menschen zu erfassen, ihn zu erkennen.

Abend für Abend kann man im Theater Figuren und Geschichte­n verfolgen, selten aber sieht man einen Menschen in solcher Schärfe wie Helga Bedau in »Everywoman«. Am Ende der Vorstellun­g erlöst sie das Publikum, indem sie auf die Bühne kommt. Und als sie dann zerbrechli­ch, aber doch sichtlich erfreut den Applaus empfängt, da ist das echte Ende noch einmal verschoben worden.

Nächste Vorstellun­gen: täglich 20. bis 31. Oktober, außer 26. Oktober

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Zwiegesprä­ch im Schattenre­ich: Helga Bedau auf der Leinwand und Ursina Lardi in der Rückansich­t

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