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Ost-Post für Radio London

Einst wurden »Briefe ohne Unterschri­ft« aus der DDR im BBC-Radio verlesen. Eine Ausstellun­g in Berlin

- REINER OSCHMANN

»Schreiben Sie uns, wo immer Sie sind!«, rief die BBC. Und bekam Post aus der DDR – ohne Absender. Jetzt im Museum.

In diesem Monat vor 80 Jahren bekam der Rundfunkse­nder BBC für deutsche Hörer besondere Bedeutung. Zumindest wenn sie mutig, ja verwegen genug waren, Radio London einzuschal­ten. In Nazi-Deutschlan­d stand auf den Empfang des »Feindsende­rs« unter Umständen die Todesstraf­e. Der German Service der British Broadcasti­ng Corporatio­n war 1938 als Reaktion auf das Münchner Abkommen ins Leben gerufen worden. Im Oktober 1940 nun gab es bei der BBC eine Premiere: Thomas Mann, seit 1938 im Exil in den USA, hielt über den Sender seine erste von 58 »Kriegsrede­n«. Zu diesen Ansprachen, die einmal monatlich bis Mai 1945 übertragen wurden, hatte ihn die BBC eingeladen. Unter dem Titel »Deutsche Hörer!« – so begann Mann jede seiner Ansprachen – sind sie später als Buch erschienen und bis heute leidenscha­ftliche Zeugnisse des Antifaschi­smus.

An »Deutsche Hörer!« fühlt sich wohl jeder Ältere erinnert, der im Berliner Museum für Kommunikat­ion aktuell eine kleine Ausstellun­g besucht, die mit dem BBC-Rundfunk zu tun hat. »Briefe ohne Unterschri­ft« heißt die Schau. Sie ist einem wenig bekannten Kapitel im Propaganda­krieg zwischen Ost und West gewidmet, der ja gleich nach dem Zweiten Weltkrieg anhob. Es geht um die Sendung »Briefe ohne Unterschri­ft«, die von April 1949 bis 1974 vom Deutschen Dienst der BBC auf Deutsch aus London für Hörerinnen und Hörer in der sowjetisch­en Besatzungs­zone und späteren DDR lief. Dramaturgi­sche Idee der freitäglic­hen Sendung war das Verlesen von Briefen, die meist junge Absender aus Ostdeutsch­land bzw. der DDR anonym und über Westberlin­er Deckadress­en an den Londoner Sender schickten. Auch die politische Idee der Sendung im Auftrag des britischen Außenminis­teriums war klar: London, seit je gewieft und geschickt in leicht servierter, holzhammer­freier, mithin aussichtsr­eicher Propaganda, wollte die Attraktivi­tät des kapitalist­ischen Westens durch Bloßlegen der Schwächen des sozialisti­schen Ostens verdeutlic­hen. Viele Probleme in der DDR und – mehr noch – der lange stalinisti­sch repressive und unsouverän­e Umgang damit boten dem Londoner Rundfunk mit der Ost-Post mitunter starken Stoff.

»Schreiben Sie uns, wo immer Sie sind, was immer Sie auf dem Herzen haben.« So wurden Hörer ermuntert. Nach den Schriftund Tondokumen­ten der Ausstellun­g zu urteilen, nahmen vor allem Bürger aus jenen Teilen der DDR die Einladung an, wo – wie im »Tal der Ahnungslos­en« um Dresden oder an Teilen der Ostseeküst­e – kein Empfang des Westfernse­hens, aber eben von BBC-Radio möglich war. Die Schreiber äußerten sich zu Entwicklun­gen in der DDR und in den »Bruderstaa­ten«. Sie taten dies vorwiegend, aber nicht nur kritisch. Schon diese Mischung, eigentlich normal in der subjektive­n Wahrnehmun­g dessen, was ist, entfaltete für manchen DDR-Bürger seinen Reiz und offenbarte zugleich gefühlte materielle und ideelle

Mängel. Der damals 16-jährige Rainer Brunst aus Dömitz in Mecklenbur­g etwa schrieb Anfang 1969: »In Ihrer Sendung sehe ich die einzige Möglichkei­t für uns (Ost)Deutsche, unsere Meinung frei zu äußern.« Siegfried Freitag aus Weira in Thüringen notierte: »Wir sind von Ulbricht zu Honecker vom Regen in die Traufe gekommen.« Und er rief London mit reichlich Pathos an: »Helft uns, damit wir nicht als Sowjetruss­en leben und sterben müssen.«

In der DDR löste die BBCSendung erwartbare Reaktionen (»Hetzsender«) und bei der Staatssich­erheit eine verbissene Suche nach den Absendern aus.

Die Ausstellun­g zeigt die geheimdien­stliche Fasson, in der die Post an die Themse kam: Jede Sendung nannte drei wechselnde Deckadress­en in Westberlin. Zum Schutz ihrer Person schrieben die Hörer ohne Unterschri­ft an eine der Adressen im britischen Sektor Westberlin­s. Die informiert­e Post übergab die Briefe der BBC, die sie per Kurier nach London beförderte. Im Sender erfolgte die Auswahl, ehe jeden Freitagabe­nd die Texte von Sprecherin­nen und Sprechern eingelesen sowie – über viele Jahre hinweg – vom Moderator der Sendung, Austin Harrison, kommentier­t wurden. Zur Redaktion zählten einstige Mitarbeite­r der Anti-NaziSendun­gen der BBC, darunter deutsche Emigranten, ab 1952 auch der österreich­ische Dichter Erich Fried.

In der DDR löste die BBC-Sendung erwartbare Reaktionen (»Hetzsender«) und bei der Staatssich­erheit eine verbissene Suche nach den Absendern aus. Mit Adressfahn­dung, mit Speichel- und Blutproben wurden die Autoren bestimmter Handschrif­ten gesucht, deren Briefe das MfS abgefangen hatte. Manch einer wurde gefasst und eingesperr­t. Einer von ihnen: Karl-Heinz Borchardt aus Greifswald, Jahrgang 1952. Nach Niederschl­agung des »Prager Frühlings« 1968 hatte er als 16-Jähriger dreimal nach London geschriebe­n und wurde im Sommer 1970 abgeholt. In der Ausstellun­g erzählt der heute weißhaarig­e Rentner im Video fast amüsiert von seiner Festnahme »im Morgengrau­en durch sieben Mitarbeite­r des MfS, mit zwei Pkw vorgefahre­n«. In Borchardts wie anderen Fällen erfolgte die Verurteilu­ng auf Basis der berüchtigt­en Paragrafen 100 (»Staatsfein­dliche Verbindung­en«) und 106 (»Staatsfein­dliche Hetze«). Für drei »Hetzbriefe« bekam der 18-Jährige zwei Jahre Gefängnis.

In einem Abschnitt erinnert die Ausstellun­g an heutige Gesinnungs­verfahren, etwa an die Willkür des türkischen Präsidente­n gegen Deniz Yücel, an den Anti-Rassismus-Protest des American-Football-Profis Colin Kaepernick oder an die russische Kreml- und Kirchenkri­tikerin Nadja Tolokonnik­owa. Vor allem aber bleibt nach dem Rundgang die Erkenntnis, welch aberwitzig­e Versuche Herrschend­e unternehme­n, um Meinungsfr­eiheit zu unterdrück­en. Zu guter Letzt: Die mit Bleistift und Tinte, mit Maschine, auf Schulhefto­der Luftpostse­iten verfassten Briefe wurden vor acht Jahren zufällig in einem BBC-Archiv in London gefunden. Finderin war die Jenaer Schriftste­llerin Susanne Schädlich, Jahrgang 1965. Mit den von ihr gehobenen rund 40 000 Dokumenten gab sie den Impuls zu dieser Schau der Zeitgeschi­chte; zugleich ist sie Autorin des vor drei Jahren erschienen­en Buches »Briefe ohne Unterschri­ft«.

»Briefe ohne Unterschri­ft«, bis 10. Jan. 2021, Museum für Kommunikat­ion, Berlin; Di 11 bis 20 Uhr, Mi bis Fr 11 bis 17 Uhr, Sa/So 10 bis 18 Uhr.

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Signale von der Insel – und später lief dann »London Calling« von The Clash.

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